Die Reisen Des Paulus
an einer wichtigen Karawanenstraße, die den Osten mit dem Westen verband. Sie führte übers Taurusgebirge, durch die sogenannte cilicische Pforte, einen engen, etwa hundert Meter langen Paß. Tarsus war auch der Ort, wo Kleopatra mit ihrer goldenen Barke, mit ihren Begleitbooten und Vorratsschiffen, mit einer Schaustellung ohnegleichen, einer Schaustellung von Reichtum, Luxus und Raffinement den schlichten Hartsäufer Antonius in ihren Bann schlug. Tarsus, wo Rom und Alexandrien sich begegneten, war ein Schmelztopf der Kulturen, Völker und Religionen.
Kühl durchrauschte der Fluß die Stadt. Die Bürger von Tarsus waren stolz darauf, denn trotz der großen Einwohnerzahl war das Wasser noch klar und rein – was man von den Bürgern kaum behaupten konnte. Apollonios von Tyana, ein Philosoph, aber kein Puritaner, soll sich sehr kritisch zu der geradezu ansteckenden Verworfenheit geäußert haben, die wie eine dicke Wolke über Tarsus hing. Er war zwar in Tarsus aufgewachsen, beschloß aber schon in jungen Jahren, sich aus der Stadt zurückzuziehen, und ging nach dem nahegelegenen Ägä, wo er von da an ein asketisches Leben führte. Vielleicht wies die überstarke und unverhohlene Sexualität von Tarsus Züge auf, die einem anständigen oder skrupulösen Menschen Widerwillen gegen die heidnische Welt einflößten. Und der Knabe Saul wurde nicht nur als monotheistischer Hebräer erzogen, er lernte nicht nur, daß einzig und allein sein Volk von Gott auserwählt sei, sondern er wurde in den Glaubens-26
sätzen der strengsten jüdischen Sekte, der Pharisäer, unter-weisen.
Als Pharisäer gehörte man zu einer religiösen Par-
tei, die im eigentlichen Sinne erst im zweiten vorchristlichen Jahrhundert hervorgetreten war. Zwar gab es unter den Pharisäern oft auch Spaltungen, aber nichtsdestoweniger waren sie der wichtigste Faktor bei der Entwicklung des orthodoxen Judentums. Dazu schreibt G. H. Box: »Ihr allgemeines Ziel war die Weiterentwicklung und Vertiefung der Arbeit, die vor ihnen die Hasidim (die frommen Männer) geleistet hatten: die Thora sollte allgemein anerkannte Lebensregel des jüdischen Volkes werden. Ihr Wirken war erstaunlich erfolgreich. Sie machten die Synagoge zu einer dauerhaften und weitverbreiteten Institution des jüdischen Lebens. Hier fanden bei den wöchentlichen Versammlungen die Lesungen statt, die dann für das Volk ausgelegt wurden, hier entwickelte man die Synagogengebe-te und machte sie populär. Außerdem bauten die Pharisäer ein System der elementaren religiösen Unterweisung auf.«
Diese Schule durchlief auch der Knabe Paulus. Doch obwohl sein Vater, seine Mutter und die strenggläubigen Juden überhaupt sich von der weiteren Umgebung, in der sie lebten, fernhielten, wuchs der Junge in einer völlig heidnischen Stadt auf. In Tarsus fand man alle Elemente des Heidentums – vom Simplen und Plumpen bis zu den höch-
sten, verfeinerten Stufen. Tarsus war Universitätsstadt. Das bedeutete, daß griechische Philosophie das Leben der denkenden Minderheit durchdrang. Als Paulus noch ein kleiner Junge war, stand der Universität Athenodorus vor, ein bedeutender Mann, der aus einem Dorf in der Nachbar-27
schaft stammte. Athenodorus hatte dem Kaiser Augustus als vertrauter Berater und zeitweise auch als Lehrer gedient. Auf den Kaiser übte er einen starken und nachhaltigen Einfluß aus. Er soll Augustus gelehrt haben, sein heftiges Temperament zu zügeln, indem er ihm empfahl, sich das griechische Alphabet herzusagen, wenn ihn ein Wut-ausbruch zu überwältigen drohte. Auf ähnliche Weise erteilte er Augustus Anschauungsunterricht über die Notwendigkeit, seine sexuellen Passionen im Zaum zu halten.
Augustus hatte die unangenehme Gewohnheit, jede Frau, die ihm auffiel und nach der ihm der Sinn stand, zu sich zu kommandieren. Damit sie unterwegs von niemandem
erkannt werden konnte, ließ er sie in einer geschlossenen Sänfte zu seinem Palast bringen, wo er sich dann mit ihr vergnügte. Und nur allzu oft traf es die Frauen seiner Freunde und guten Bekannten. Augustus war sein ganzes Leben lang skrupellos, wenn er eine Sache oder eine Person begehrte. Athenodorus lernte diese Eigenart seines Schü-
lers kennen, als er eines Tages einen Freund besuchte und ihn in tiefer Verzweiflung vorfand. Seine Frau hatte soeben eine Aufforderung vom Kaiser erhalten. Wie in vielen anderen Situationen war Athenodorus nicht um geeignete Maßnahmen verlegen. Er tröstete seinen Freund und sagte ihm, er
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