Die Rekonstruktion des Menschen
Wortes
und prüfte beides auf ihre Übereinstimmung. Unterschwellig
wurde ihm zwar bewußt, daß es hier eigentlich gar nichts zu
prüfen gab, daß alles seine Richtigkeit hatte und dennoch völlig
unmöglich war, weil nämlich das Skalpell, sowohl von der
Form als auch vom Wortklang her, mit dieser Welt so ganz und
gar unvereinbar war. Er weckte Nawa.
Nawa erwachte, setzte sich auf und begann sofort drauflos zu
sprechen: »Was für ein schöner, trockener Flecken, ich hätt’
nie im Leben gedacht, daß es solch trockene Flecken gibt, wo
das Gras so herrlich wächst…« Sie verstummte und führte die
Faust mit dem Skalpell an die Augen. Einen Moment lang
betrachtete sie das Instrument, dann kreischte sie auf, schleuderte es krampfhaft fort und sprang auf die Beine. Das Skalpell
durchschnitt das Gras und bohrte sich in den Grund. Sie starrten es an, und beide überlief ein Schauer. »Was ist das,
Schweiger?« fragte Nawa schließlich flüsternd. »Es jagt mir
Furcht ein… Vielleicht ist das gar kein Gegenstand, sondern eine Pflanze? Schau doch nur, wie trocken der Boden überall
ist, vielleicht wächst sie hier?«
»Wieso jagt es dir eigentlich Furcht ein?« fragte Candide. »Na hör mal«, sagte Nawa. »Nimm’s nur mal in die Hand…
Los, nimm’s schon, dann wirst du verstehen, wieso… Ich weiß
selbst nicht so genau, warum es mir solche Angst macht.« Candide nahm das Skalpell in die Hand. Es war noch warm,
nur sein spitzes Ende fühlte sich kühl an. Wenn man vorsichtig
mit dem Finger drüberfuhr, konnte man die Stelle ausmachen,
wo warm und kalt ineinander übergingen.
»Wo hast du das her?« fragte Candide.
»Ich hab’s nicht genommen«, sagte Nawa. »Es muß mir,
während ich schlief, von allein in die Hand geglitten sein.
Siehst ja selbst, wie kalt es ist – da ist es mir eben in die Hand
geschlüpft, um sich zu wärmen. Ich hab’ solche… so was noch
nie gesehn, weiß ja nicht mal, wie ich’s nennen soll. Wahrscheinlich ist es doch keine Pflanze, es wird irgendein Vieh
sein, bestimmt hat’s auch Füße, nur versteckt hat es sie, und
dann ist es so hart und bösartig… Du, hör mal, Schweiger,
vielleicht schlafen wir beide noch?« Sie stockte unvermittelt
und sah Candide an. »Waren wir heut nacht eigentlich im
Dorf? Aber natürlich waren wir da, ich erinnere mich doch an
diesen Mann ohne Gesicht, der immer dachte, ich wäre ein
Junge… Wir haben nach einer Unterkunft für die Nacht gesucht… Ja, und dann bin ich aufgewacht, du warst nicht da,
und ich hab’ mit der Hand den Boden neben mir abgetastet…
Dort ist es mir überhaupt in die Hand geschlüpft!« rief sie aus.
»Verwunderlich ist nur, Schweiger, daß ich dort nicht die
geringste Angst vor ihm hatte, eher umgekehrt… Es war mir
sogar zu irgendwas nütze…«
»Das war alles nur ein Traum«, sagte Candide entschieden. Er
verspürte ein Ameisenkribbeln im Nacken. Er erinnerte sich an
alles, was nachts geschehen war. Auch an Karl. Wie der unmerklich den Kopf geschüttelt hatte: Lauf weg, solange du heil
bist. Und daran, daß Karl zu Lebzeiten Chirurg gewesen war. »Warum bist du plötzlich so still, Schweiger?« fragte Nawa
beunruhigt und sah ihm ins Gesicht. »Wo schaust du denn
hin?«
Candide schob sie von sich weg.
»Es war ein Traum«, wiederholte er streng. »Vergiß ihn. Versuch lieber, was zu essen aufzutreiben, ich vergrab’ inzwischen
dieses Ding.«
»Du hast wohl keine Ahnung, wozu es mir vielleicht nütze
war?« fragte Nawa. »Irgendwas mußte ich tun heut nacht…«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich liebe solche Träume nicht,
Schweiger. Wo man sich an nichts mehr erinnert! Vergrab’s
nur recht tief, sonst rappelt es sich womöglich ‘raus und kriecht
ins Dorf zurück, wo es den nächsten erschreckt… Gut wär’s,
einen schweren Stein drüber zu wälzen… Na los, vergrab das
Ding, ich such’ uns inzwischen was zu essen.« Sie schnupperte. »Hier ganz in der Nähe müssen Beeren sein. Eigenartig, daß
es an einer so trockenen Stelle Beeren gibt.«
Sie lief leicht und lautlos durchs Gras und war schon bald
hinter den Bäumen verschwunden, Candide aber saß noch
immer da und hielt das Skalpell in der Hand. Er vergrub es nun
doch nicht. Er umwickelte die Klinge mit einem Grasbüschel
und verstaute das Gerät unterm Hemd. Jetzt erinnerte er sich an
alles, begriff aber nach wie vor nicht das geringste. Es war in
der Tat ein seltsamer, furchtbarer Traum, aus dem wie durch
ein Versehen das Skalpell zu ihm gelangt war. Schade,
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