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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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quadratischen Tür und mit ihnen Karl. Sie wirkten alle drei finster und unzufrieden, sie unterhielten sich und blieben plötzlich stehen. Candide sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und er erriet, daß sie erzürnt waren, miteinander stritten. Doch er konnte nicht hören, worum es ging, nur einmal schnappte er ein Wort auf, das ihm irgendwie bekannt vorkam: »Chiasmus.« Dann wandte sich eine der Frauen, ohne im Sprechen innezuhalten, zur Menge um und wies mit einladender Geste auf das Gebäude. Candide murmelte: »Gleich, gleich…« und drückte Nawa noch fester an sich. Wieder ertönte das laute Weinen, alle ringsum gerieten in Bewegung, die fetten Leute umarmten sich, preßten sich aneinander, streichelten und liebkosten sich. Ihre Augen waren trocken, die Lippen fest zusammengepreßt, und doch waren sie es, die da weinten und schrien, denn es waren Männer und Frauen, die für immer voneinander Abschied nahmen. Niemand wagte den ersten Schritt zu tun, bis sich Candide entschloß, den andern voranzugehen, denn er war ein tapferer Mann, der wußte, was Müssen bedeutete, und auch, daß hier sowieso nichts half. Bis ihn plötzlich Karl ansah und mit dem Kopf kaum merklich zur Seite deutete. Woraufhin Candide von unerträglichem Schaudern erfaßt wurde, weil es dennoch nicht Karl war. Doch er begriff und setzte sacht zum Rückzug an, dabei mit dem Rücken die weichen und glatten Körper streifend. Und als Karl dann ein zweites Mal den Kopf schüttelte, drehte sich Candide um, warf sich Nawa über die Schulter und rannte wie ein Schlafwandler auf unsicheren, einknickenden Beinen die leere erleuchtete Straße entlang, ohne das Getrampel der Verfolger hinter sich zu hören.
Er kam erst wieder zu sich, als er schmerzhaft gegen einen
Baum stieß. Nawa schrie auf, und er ließ sie auf die Erde gleiten. Unter seinen Füßen war Gras.
Von hier aus war das ganze Dorf zu sehen. Als violett
schimmernder Konus stand Nebel über dem Dorf, die Häuser
schienen verschwommen, und verschwommen schienen auch
die kleinen Gestalten der Leute.
»Ich kann mich an gar nichts erinnern«, murmelte Nawa.
»Wieso sind wir hier? Wir hatten uns doch schon schlafen
gelegt. Oder träume ich das alles?«
Candide hob sie wieder auf und trug sie weiter, immer weiter,
er zwängte sich durch Gesträuch, verhedderte sich im Gras, so
lange, bis sie von völliger Finsternis umgeben waren. Auch
dann noch lief er ein Stück weiter, ehe er Nawa erneut absetzte
und sich neben ihr auf die Erde niederließ. Rings um sie her
war hohes, warmes Gras, keine Spur von Feuchtigkeit, noch
nie war Candide im Wald auf ein so trockenes, paradiesisches
Plätzchen gestoßen. Der Kopf tat ihm weh, der Schlaf wollte
ihn übermannen, und er konnte an nichts denken. Er empfand
nur unsagbare Erleichterung darüber, daß er das nicht getan
hatte, was er im Begriff gewesen war zu tun.
»Weißt du, Schweiger«, sagte Nawa mit schläfriger Stimme,
»mir ist nun doch eingefallen, wo ich die Worte gestern schon
gehört hab’. Du selbst hast sie gebraucht, als du noch nicht bei
Besinnung warst. Hör mal, Schweiger, viel leicht stammst du
aus diesem Dorf? Hast es einfach vergessen? Immerhin warst
du sehr krank damals, völlig ohne Bewußtsein…«
»Schlaf«, sagte Candide. Er wollte nicht denken. An nichts.
Chiasmus… ging es ihm durch den Sinn, dann schlief er sofort
ein. Das heißt nicht sofort. Ihm fiel noch ein, daß seinerzeit
nicht Karl verschollen war, sondern Valentin, ihn hatten sie als
verschollen eingetragen. Karl dagegen war im Wald umgekommen – seinen Körper hatten sie zufällig gefunden, in einen Bleisarg gelegt und aufs Festland übergeführt. Freilich glaubte
Candide, daß er das alles träumte.
Als er die Augen aufschlug, schlief Nawa noch. Sie lag auf
dem Bauch, in einer Vertiefung zwischen zwei Wurzeln, und
hatte das Gesicht in die linke Ellenbeuge vergraben, während
der rechte Arm seitlich ausgestreckt war. In ihrer schmutzigen,
halbgeöffneten Faust entdeckte Candide einen dünnen, blitzenden Gegenstand. Anfangs begriff er nicht, was das war, aber
plötzlich kam ihm der wirre Halbtraum dieser Nacht zum
Bewußtsein, mit all den Ängsten und der nachfolgenden Erleichterung, daß das, Furchtbare nicht geschehen war. Da
erinnerte er sich, aus das für ein Gegenstand war, sogar seine
Bezeichnung tauchte unvermittelt aus seinem Gedächtnis auf.
Es war ein Skalpell. Er zögerte noch einen Augenblick, verglich das Äußere des Gegenstandes mit dem Klang des

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