Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
leben, sondern in dem andern, wo
ich geboren bin. Doch das müßte dann schon sehr lange zurückliegen, ich war ja damals noch klein, hab’ seither alles
vergessen. Jetzt aber ist mir schwach die Erinnerung gekommen. So richtig kann ich mich allerdings nicht mehr entsinnen.«
Im nächsten Haus stießen sie auf einen Mann, der an der
Schwelle direkt auf dem Fußboden lag und schlief. Candide
beugte sich über ihn, rüttelte ihn an der Schulter, doch der
Mann erwachte nicht. Seine Haut war feucht und kalt wie bei
einer Amphibie, er war fett, weich und besaß fast keine Muskeln. Seine Lippen sahen im Halbdämmer schwarz aus und
glänzten fettig.
»Er schläft«, sagte Candide und wandte sich zu Nawa um. »Wie kann er denn schlafen«, entgegnete Nawa, »wenn er uns
anschaut?«
Candide beugte sich erneut über den Mann und hatte nun
auch den Eindruck, daß der sie unter halbgeöffneten Lidern
hervor ansah. Doch der Schein trog.
»Aber nein«, sagte Candide, »er schläft. Gehen wir.« Ganz gegen ihre Gewohnheit entgegnete Nawa diesmal
nichts.
Sie hatten die Mitte des Dorfes erreicht und dabei in jedes
Haus geschaut. Überall waren sie auf Schlafende gestoßen, und
ausnahmslos fette, schweißnasse Männer, keine einzige Frau
war unter ihnen, kein Kind. Nawa war nun gänzlich verstummt,
und auch Candide fühlte sich unbehaglich. In den Bäuchen der
Schlafenden ertönte ein lautstarkes Kollern, keiner von ihnen
erwachte, doch wenn Candide das Haus verließ und sich nach
ihnen umschaute, hatte er jedesmal den Eindruck, daß sie ihn
mit kurzen, vorsichtigen Blicken verfolgten. Es war nun völlig
dunkel geworden, durch die Zweige schimmerte der vom
Mondlicht aschfarbene Himmel, und Candide sagte sich erneut,
daß dies alles unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit einer Theaterkulisse habe. Gleichzeitig spürte er, daß er aufs äußerste
erschöpft war, gewissermaßen bis zur völligen Gleichgültigkeit. Er hatte jetzt nur den einen Wunsch: sich unter dem erstbesten Dach auszustrecken (damit ihm im Schlaf nicht irgendein scheußliches Vieh auf den Kopf fiel), und wenn’s direkt auf
dem harten, festgetretenen Fußboden wäre, nach Möglichkeit
jedoch in einem leeren Haus, nicht in Gesellschaft dieser wenig
vertrauenerweckenden Schläfer. Nawa hing nun mit ihrer
ganzen Schwere an seinem Arm.
»Hab keine Angst«, sagte Candide, »es gibt hier absolut
nichts, wovor du Angst haben müßtest.«
»Was hast du gesagt?« fragte sie schläfrig.
»Ich hab’ gesagt, du brauchst keine Angst zu haben. Die sind
hier alle halbtot, ich werf sie mit einer Hand um.«
»Ich hab’ vor niemandem Angst«, erwiderte Nawa wütend.
»Ich bin müde und will schlafen, wenn du schon nichts zu
essen auftreibst. Du läufst und läufst von Haus zu Haus, von
Tür zu Tür, das hängt einem ja zum Hals ‘raus. Ist doch in jedem Haus das gleiche, die Leute haben sich alle hingelegt,
nur wir beide sind auf den Beinen…«
Da entschloß sich Candide und betrat das erstbeste Haus. Es
war völlig finster darin. Candide lauschte, wollte herausfinden,
ob sich jemand im Raum befand, hörte aber nur das Schniefen
Nawas, die ihre Stirn an seine Seite gepreßt hatte. Er tastete
sich an eine der Wände heran, fuhr mit den Händen über den
Fußboden, um zu prüfen, ob er trocken war, dann streckte er
sich aus und bettete Nawas Kopf auf seinen Bauch. Nawa
schlief bereits. Hoffentlich bereuen wir’s nicht, dachte er, es ist
nicht gut hier… nun ja, die eine Nacht… morgen erkundigen
wir uns nach dem Weg… tagsüber werden sie ja nicht schlafen… zur allergrößten Not geht’s durch den Sumpf, die Räuber
sind fort… Und wenn sie doch nicht fort sind? – Was wohl die
im Weiler machen? Hoffentlich heißt’s nicht wieder »übermorgen«? – Nein, nein, morgen… morgen…
Lichtschein weckte ihn, und er glaubte, es wäre der Mond. Im
Haus war es dunkel, der violette Schimmer drang durchs Fenster und zur Tür herein. Candide fragte sich, wie der Mondschein zugleich zum Fenster und zur gegenüberliegenden Tür
hereinfallen konnte, aber da kam ihm die Erkenntnis, daß er
sich ja im Wald befand, es einen richtigen Mond also nicht
geben konnte. Doch im nächsten Augenblick waren seine
Gedanken wie fortgeblasen. In dem Lichtstreif, der durchs
Fenster fiel, entdeckte er die Umrisse eines Menschen. Der
Mensch stand da, in einem Raum mit ihnen, den Rücken Candide zugewandt, und schaute zum Fenster hinaus. Seine Umrisse ließen erkennen, daß er eine Haltung einnahm, wie sie

Weitere Kostenlose Bücher