Die Rekonstruktion des Menschen
brach wie ein Grashalm
durch einen Riß im Asphalt.
Nawa holte ihn ein und lief neben ihm her. Sie war wütend
und schwieg sogar einige Zeit, hielt das freilich nicht lange
durch.
»Glaub ja nicht, daß ich mit diesen Leuten sprechen werde«,
verkündete sie, »kannst selber mit ihnen reden, gehst hin zu
ihnen, also kannst du auch mit ihnen reden. Ich hab’ nämlich
nicht gern mit Leuten ohne Gesicht zu tun, nein, die lieb’ ich
ganz und gar nicht. Von solchen Leuten, die nicht mal einen
Jungen von einem Mädchen unterscheiden können, ist nichts
Gutes zu erwarten… Mir tut schon seit dem Morgen der Kopf
weh, und jetzt weiß ich auch, warum…«
Unvermutet hatten sie das Dorf vor sich. Candide hatte sich
offenbar ziemlich forsch seitlich gehalten, und so lag es inmitten der Bäume plötzlich rechts von ihnen. Etwas Grundsätzliches hatte sich hier verändert, doch Candide begriff nicht
gleich, was es war. Erst einen Augenblick später wurde ihm
klar: Das Dorf ertrank.
Die dreieckige Lichtung war von schwarzem Wasser überschwemmt, das zusehends stieg. Das die lehmige Senke füllte,
die Häuser unter sich begrub und lautlose Strudel auf den
Straßen bildete. Candide stand hilflos da und schaute zu, wie
die Fenster unter der Wasserfläche verschwanden, wie sich die
durchweichten Mauern senkten und auseinanderfielen, wie die
Dächer einbrachen. Aber niemand stürzte aus den Häusern,
versuchte das rettende Ufer zu erreichen, tauchte an der Wasseroberfläche auf. Vielleicht weil es gar keine Leute mehr im
Dorf gab, vielleicht weil sie des Nachts fortgegangen waren?
Doch der Schweiger spürte, daß sich die Sache anders verhielt.
Das ist kein Dorf, ging es ihm durch den Sinn, das ist eine
Attrappe, die verstaubt und von allen vergessen dort stand, bis
plötzlich jemand wissen wollte, was geschähe, wenn die Attrappe unter Wasser gesetzt würde. Vielleicht gäbe das ein
interessantes Schauspiel? – Deshalb floß jetzt das Wasser, nur
daß alles andere als ein interessantes Schauspiel draus wurde… Geschmeidig, lautlos tauchte das Dach des flächen Gebäudes
unter. Ein leichtes Seufzen schien über dem schwarzen Wasser
aufzusteigen, ein Kräuseln lief über die glatte Oberfläche, dann
war alles vorbei. Vor Candide erstreckte sich ein gewöhnlicher
dreieckiger See, vorerst noch ziemlich flach und nicht von
Leben erfüllt. Später dann würde er tiefer werden, abgrundtief,
und es würden Fische drin schwimmen, die man fangen, präparieren sowie in Formalin legen konnte.
»Ich weiß, was das ist«, sagte Nawa. Ihre Stimme klang so
gelassen, daß Candide sie anschaute. Sie war tatsächlich völlig
gelassen und, wie’s schien, sogar zufrieden. »Das ist die Besetzung. Deshalb hatten sie auch kein Gesicht – daß ich das nicht
gleich begriffen hab’! Wahrscheinlich war es ihr Wunsch, im
See zu leben. Ich hab’ mal gehört, daß die Bewohner der Häuser dableiben und im See weiterleben können, und der See wird
ja nun für immer dort sein; wer das nicht will, muß fortgehn.
Ich wär’ wahrscheinlich fortgegangen, obwohl sich’s im See
vielleicht besser lebt, man weiß das nicht genau. Niemand weiß
das… Wollen wir baden?« schlug sie vor.
»Nein«, sagte Candide, »ich will hier nicht baden. Laß uns zu
deinem Pfad gehn. Komm.«
Bloß fort von hier, dachte er, sonst geht’s mir noch wie der
kleinen Maschine damals im Labyrinth… Wir standen alle um
sie herum und amüsierten uns darüber, wie sie geschäftig hin und her sauste, suchte, schnupperte… dann gossen wir Wasser in ein kleines Becken auf ihrem Weg, und sie wurde rührend hilflos, doch nur für einen Augenblick, danach begann sie wieder geschäftig ihre Antennen zu bewegen, zu summen und zu schnuppern, ohne zu wissen, daß wir sie beobachteten. Uns war’s im übrigen völlig schnurz, ob sie das wußte oder nicht, obwohl dieses Nicht-Wissen vielleicht am allerschlimmsten war. Wenn das Wort schlimm überhaupt zutrifft, dachte Candide. Eine Notwendigkeit kann weder schlimm noch gut sein. Eine Notwendigkeit ist einfach notwendig, alles andere dichten wir ihr an, oder die Maschinen in den Labyrinthen tun das, falls sie überhaupt dazu imstande sind. Wenn uns ein Irrtum unterlaufen ist, packt uns die Notwendigkeit einfach bei der Kehle, und wir fangen an zu weinen und zu wehklagen, wie hart sie doch sei, wie schrecklich. Dabei ist sie so, nicht anders – nur wir sind dumm oder blind… Ich kann heute ja sogar philosophieren, dachte er. Das kommt wohl von der
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