Die Rekonstruktion des Menschen
nicht mehr davon los. Ich fing an, Fachliteratur zu wälzen. Und als ich nach dem Krieg in Reserve ging und mein Studium an der Chemischen Fakultät aufnahm, begann ich mich ernstlich damit zu befassen. Nimm zum Beispiel ein Paar Lederschuhe: Die Sohlen nutzen sich ab. Ein lebendiger Mensch aber kann sogar barfuß laufen, und die abgenutzte Haut wächst wieder nach. Ich überlegte mir, ob man nicht erreichen kann, daß sich auch totes Leder, beispielsweise eine Schuhsohle, wieder regeneriert.«
»Vergebliche Liebesmüh.« Michail lächelte. »Leder wird heute für Schuhsohlen kaum noch verwendet. Dafür nimmt man jetzt Kunststoffe…«
»Ach, geh mir mit deinen Kunststoffen!« Platonow zog eine ärgerliche Grimasse. »Also weißt du, mein Lieber… ich setze dir hier ein philosophisches Problem auseinander. Versuche die Erscheinung der Abnutzung mal von einer höheren Warte zu betrachten. Hier lassen sich alle möglichen Fälle in zwei Kategorien einteilen. Die erste ist die allmähliche Abnutzung, der allmähliche Wandel der Qualität. Ein Beispiel dafür sind Schuhe, egal, ob aus Leder oder aus synthetischem Material. Sobald man den ersten Schritt in einem neuen Paar Schuhe macht, beginnt auch schon die Abnutzung. Genau zu bestimmen, wann sie gar nicht mehr zu gebrauchen sind, fällt schwer. Das ist Ansichtssache. Der eine hält sie für abgetragen und wirft sie fort. Ein anderer hebt sie auf und sagt sich: Warum, zum Teufel, werfen die Leute fast neue Schuhe weg? Man kann sie gut und gern noch eine Weile tragen…«
Michail lachte auf.
»Jetzt nehmen wir mal die zweite Kategorie: die stufenweise Abnutzung«, fuhr Platonow fort. »Ein Beispiel dafür ist eine elektrische Glühbirne. Ich schalte mal das Licht ein. Kannst du mir sagen, wie viele Stunden die Birne schon gebrannt hat und wann sie durchbrennen wird?«
»Tatsächlich«, meinte Michael, »eine Glühbirne scheint sich nicht abzunutzen. Sie brennt und brennt, bis sie eines Tages plötzlich durchbrennt.«
»Genau!« Platonow stand auf und ging, die Hände in den Hosentaschen, in der Veranda auf und ab. »Sie brennt plötzlich durch. Eine Stufe, ein sprunghafter Übergang in eine neue Qualität… Die meisten Dinge unterliegen natürlich einer Abnutzung der ersten Kategorie – der allmählichen. Ich aber überlegte mir: Kann man das Sohlenleder den Bedingungen der zweiten Kategorie unterwerfen, so daß seine Abnutzung nicht allmählich, sondern stufenweise erfolgt? Sagen wir es so: Man trägt und trägt seine Schuhe, und die Sohle bleibt immer wie neu. Nach Ablauf einer bestimmten Frist aber fällt sie eines schönen Tages mir nichts, dir nichts auseinander und es besteht keinerlei Zweifel mehr daran, ob man die Schuhe noch tragen kann oder nicht. Es macht ›peng‹ wie bei der Glühbirne, und sie sind unwiederbringlich dahin…«
Platonow verstummte plötzlich. Er lehnte sich über das Geländer und schien ins Dunkel des Gartens zu spähen. »Ein interessanter Gedanke«, sagte Michail. »Ein bis zu einem bestimmten Zeitpunkt immer neu bleibender Gegenstand.«
»Haben Sie solche Schuhe, die sich nicht abnutzen, schon hergestellt?« fragte Assja.
»Ja.«
»Wie ist Ihnen das gelungen?« erkundigte sich Michail interessiert.
»Das ist eine lange Geschichte, mein Lieber. Nach mehrjährigen Versuchen erreichten wir endlich, daß Leder organischer Herkunft seine Zellen von selbst regeneriert. Aber, siehst du, Schuhsohlen sind kein so wichtiges Problem. Es ging hier ums Prinzip, das aber hat mich… und auch andere… ziemlich weit geführt…« Platonow richtete sich auf. »Davon aber werde ich euch ein andermal erzählen.«
»Möchten Sie noch etwas Tee?« fragte Assja. »Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie ein Erfinder sind. Man könnte also auch einen Mantel und andere Sachen so herstellen, daß sie immer wie neu bleiben?«
»Ja, auch einen Mantel könnte man so herstellen… Nun, ich werde dann gehen.«
»Wollen Sie wieder die ganze Wacht arbeiten?«
»Vielleicht.«
In diesem Augenblick klopfte jemand ans Gartentor. Igor lief hinaus, um zu öffnen.
Zur Veranda drang eine hohe Frauenstimme herüber. »Wohnen hier die Lewitskis?«
»Ja«, erwiderte Igor.
»Sagen Sie bitte, wohnt Georgi Platonow bei Ihnen?«
Als Platonow diese Stimme vernahm, zog er die Augenbrauen hoch. Er stieg langsam von der Veranda und ging der schlanken jungen Frau im grauen Kostüm entgegen, die Igor über den Gartenweg folgte.
»Georgi!«
Die Frau eilte auf ihn zu und preßte ihr
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