Die Rekonstruktion des Menschen
ja?«
»Gut, mein Freund. Paß auf, da hat einer angebissen.« Auf dem Heimweg gingen sie bei Philipp vorbei. Philipp hatte sich eine natürliche Grotte in einem großen Felsen so geschickt als Werkstatt eingerichtet, daß man den Eindruck gewann, als habe die Stadt Kara-Burun von ebendiesem wohnlichen Punkt aus ihren Anfang genommen.
Die Wände der Grotte waren mit Fotos geschmückt, die Philipp aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Sie ließen eine
strenge Auswahl erkennen: Schiffe und hübsche Mädchen. Philipp war einst Matrose gewesen und über die Meere gefahren – das erklärte seine Vorliebe für Schiffe. Was den zweiten Teil der Bildergalerie betraf, so zollte Philipp hier, wie er sich ausdrückte, dem »ewigen und unvergänglichen Schönheitside
al« sein Tribut.
In Kara-Burun nutzten sich die Schuhsohlen rasch ab, und der
alte Philipp hatte viel zu tun. Er verstand es, seine Arbeit mit
dem Angelsport zu verbinden, indem er unter seinem Felsen
Angeln mit kleinen Glöckchen anbrachte. Philipp kannte sich
gut mit Menschen und mit Schuhen aus – an einer abgetretenen
Schuhsohle konnte er den Charakter ihres Besitzers erkennen.
Außerdem hatte er es heraus, zu sprechen, ohne die Nägel aus
dem Mund zu nehmen.
Manchmal brachte Platonow eine Flasche Rotwein mit, Philipp briet eine Bastardmakrele im Feuer, und sie ließen es sich
wohl sein.
Mit seinem Hämmerchen klopfend und das Messer am
Zuschneidebrett schärfend, erzählte Philipp von Menschen, von
Schiffen und Schuhsohlen.
»Alles auf der Welt muß verwelken«, verkündete er, »die
Bäume und auch die Frauen. Nur das Meer ist ewig und unvergänglich, denn niemand, nicht einmal die allmächtige Zeit,
vermag es auszuschöpfen.«
Und er schaute seine Gesprächspartner siegesbewußt an, als
wollte er sagen: Na, was könnt ihr mir darauf erwidern? Platonow erwiderte nichts, nur Igor äußerte sich dahingehend,
daß das Meer im Verlauf von Milliarden Jahren ganz einfach
verdampfen könne.
»Das wird niemals geschehen«, sagte Philipp überzeugt,
nahm einen Nagel aus dem Mund und trieb ihn in die Schuhsohle. »Du bist ein guter Junge, aber einfach noch unfertig.«
Und mit einem kräftigen Hammerschlag schlug er den nächsten
Nagel ein.
Mitunter wanderten Platonow und Igor auf einem alten
Waldweg zur Chalzedonowaja-Bucht, den Kurort selbst aber
betraten sie nicht. Platonow warf nur aus der Ferne einen Blick
auf die weißen Ferienheime, die bunten Sonnendächer und die
von Menschen wimmelnden Strände, und sie machten wieder
kehrt.
Am liebsten aber schlugen sie einen anderen Weg zur Bucht
ein, denselben, den die Elektrozüge befuhren. Dieser Weg
führte direkt durch den Gebirgsstock. Durch das felsige Kap
zog sich eine Schlucht, die von der Eisenbahn auf einer Stahlbogenbrücke überquert wurde und in einem Steilhang zum
Meer auslief. Am Rande des Steilhangs führte ein schmaler,
schwer begehbarer Felsvorsprung entlang. Von hier hatte man
einen guten Ausblick auf die langgestreckten gelben Strände
der Chalzedonowaja-Bucht.
Einmal beschlossen sie, auf diesem schmalen Felsvorsprung
entlangzugehen. Igor schritt langsam voran, während Platonow
ihm, Schritt auf Schritt, mit ausgestrecktem Arm folgte, bereit,
den Jungen bei einem Fehltritt zu stützen.
»Das reicht, Igor«, sagte er schließlich. »Dort vorn kommt
man nicht mehr durch. Machen wir hier halt.«
Mit dem Rücken an den rauhen, von der Sonne erwärmten
Felsen gelehnt, schauten sie lange auf das träge, unter dem
Steilhang rauschende Meer hinunter.
»Schön ist es hier«, sagte Platonow leise, wie zu sich selbst. »Könnten Sie von hier oben einen Kopfsprung machen?«
fragte der Junge.
»Ich weiß nicht. Gehen wir lieber zurück.«
Den Dreimeilendurchgang erreichten sie eben an der Stelle,
an der sich das Mahnmal über dem Brudergrab der Matrosen
erhob, die Kara-Burun im Kriege verteidigt hatten.
»Onkel Georgi, erzählen Sie mir vom Krieg.«
»Ich habe dir schon soviel erzählt, mein Freund. Aber wenn
du unbedingt willst…«
Und Platonow erzählte dem Jungen zum x-ten Male von den
Luftkämpfen, den Panzerschlachten, den U-Booten und den
Faschisten, welche der Mensch, wenn er glücklich leben will,
nicht auf seinem Planeten dulden darf.
In ihr Gespräch vertieft, stiegen sie langsam die in den Felsen
geschlagenen Stufen zur »Straße der Meeresschätze« hinauf. »Welches Datum haben wir heute?« fragte Platonow plötzlich, als er das Gartentor öffnete.
»Heute ist der siebzehnte August. Schade, bald
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