Die Rekonstruktion des Menschen
muß ich wieder zur Schule!«
»Schon der Siebzehnte!« sagte Platonow leise und ging in den
Garten hinein.
Assja war eine neugierige Frau. Das Geheimnis, das Platonow umgab, ließ ihr keine Ruhe. Zu allem Überfluß war da noch diese Schurotschka Grekina, eine Mitarbeiterin der Kurverwaltung, mit ihren Schauergeschichten. In Leningrad, so erzählte Schurotschka, sei vor kurzem ein greuliches Verbrechen geschehen: Ein Unbekannter habe das Restaurant »Sewer« aufgesucht und in den Kronleuchter geschossen; die Kugel habe die Haltevorrichtung durchschlagen, und der riesige Kronleuchter sei herabgestürzt und habe zwanzig der an den Tischen sitzenden Gäste zermalmt. Im Schutz der Dunkelheit und der ausbrechenden Panik sei der Verbrecher entkommen.
Ewig tischte diese Schurotschka Geschichten auf, daß man nicht mehr wußte, was man denken sollte.
Bald darauf stellte sich allerdings heraus, daß in Wirklichkeit nichts dergleichen in Leningrad passiert war. Dem Buchhalter der Kurverwaltung, der seinen in Leningrad studierenden Sohn besucht hatte, war nichts von einem Gemetzel im Restaurant »Sewer« zu Ohren gekommen. Mehr noch, er behauptete, daß es in diesem Restaurant überhaupt keinen Kronleuchter gebe, sondern daß die Beleuchtung, wie er sich ausdrückte, mittels Wandlampen erfolge.
Aus irgendeinem Grunde aber vertiefte sich Assjas Mißtrauen nur noch mehr. Schließlich kommt es vor, daß sich Gedanken nur schwer von einer einmal eingeschlagenen Richtung abbringen lassen.
Natürlich hielt sie sich an den Rat ihres Mannes, dem Gast nicht mit Fragen zuzusetzen; ihren Sohn auszufragen aber konnte ihr niemand verwehren. Igor machte kein Geheimnis aus dem, was er wußte, allerdings war das viel zuwenig oder, genauer gesagt, gar nichts.
Es war ein stiller Abend. Am schwarzen Himmel leuchteten hell die Sterne, und durch das Laub der Bäume schimmerte der silberne Streifen hindurch, den der Mond auf das Meer warf.
Michail Lewitski saß auf der Veranda und las in der Zeitung, wobei er das Gelesene hin und wieder mit einem zustimmenden oder ironischen »Hm« kommentierte. Assja deckte den Tisch und rief nach Igor.
»Was ist, Mama?« Igor tauchte mit einem Buch in der Hand auf.
»Was macht Onkel Georgi?«
»Er arbeitet.«
»Er vergräbt sich ganz und gar in seine Arbeit. Ich möchte nur mal wissen, was er dauernd, Tag und Nacht, zu schreiben hat… Rufe ihn zum Teetrinken.«
Platonow betrat die Veranda. Er war ungewöhnlich lebhaft.
»Tee ist etwas Feines«, sagte er, während er sich ‘auf seinen Platz setzte. »Ein ewiges und unvergängliches Getränk, wie unser Freund Philipp sagen würde. Was schreibt man in der Zeitung, Michail?«
»Ach, immer dasselbe.« Michail legte die Zeitung beiseite. »Die supertiefe Bohrung im Zionsplateau wird fortgesetzt. Ein internationales Physiologensymposium findet statt. Und wieder einmal hat man es mit dem rätselhaften Tod Professor Neumanns.«
»Gib mir bitte mal die Zeitung.« Platonow überflog den Bericht über das Symposium. »Du hast recht, es ist immer dasselbe. Oh, Erdbeerkonfitüre, herrlich! Na, Michail, wie geht’s deinen betagten Schützlingen?«
Was hat das zu bedeuten? überlegte Michail. Sind seine Nerven überreizt, oder hat er einfach gute Laune?
Er erzählte von den neuesten Methoden der Altersheilkunde, die man im Sanatorium »Langlebigkeit« anwandte, und Platonow hörte ihm, sachkundige Fragen einwerfend, zu, während Assja ihm immer wieder die Erdbeerkonfitüre nachfüllte.
»Ja«, meinte Platonow nachdenklich. »Von Hippokrates bis in unsere Tage schlagen sich die Menschen mit dem Problem der Langlebigkeit herum…« Er schaute Michail, ein Auge zukneifend, an. »Sag mir mal, mein Neffe: Worin liegt deiner Meinung nach die Hauptursache für das Altern?«
»Eine komplizierte Frage, Onkel Georgi… Im allgemeinen neige ich dazu, den Prozeß des Alterns darauf zurückzuführen, daß das lebende Gewebe allmählich die Fähigkeit verliert, sich selbst zu regenerieren. Schließlich läuft die gesamte Entwicklung des Lebens unvermeidlich auf den Tod hinaus, und irgend etwas muß ihn einleiten…« Michail lehnte sich in seinen Sessel zurück, und in seiner Stimme klangen dozierende Töne an. »Ihnen ist sicherlich bekannt, daß die Intensität des Stoffwechsels bei einem neunjährigen Kind fünfzig Prozent erreicht, bei einem Neunzigjährigen dagegen auf dreißig Prozent absinkt. Der Sauerstoffverbrauch und die Absonderung von Kohlensäure unterliegen einer Wandlung,
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