Die Rekonstruktion des Menschen
älteren Mitarbeiter erzählten, daß er schon vor vielen Jahren genauso ausgesehen habe. Ich wußte nur, daß er älter war als Neumann…«
»Onkel Georgi hat mit Neumann zusammengearbeitet?« fragte Michail erstaunt.
»Ja.«
»Aber erlauben Sie… Ich kenne Professor Neumanns Werke gut. Er hat sich mit dem Problem der Langlebigkeit befaßt, und das hat mich als Altersmediziner außerordentlich interessiert. Onkel Georgi aber hat doch auf einem ganz anderen Gebiet, gearbeitet. Er sprach von der Abnutzung der Gewebe, vom Wandel der allmählichen Abnutzung zur stufenweisen. Was aber hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Ich kann jetzt nicht… Ich bin nicht imstande, darüber zu sprechen.« Galinas Gesicht war aschfahl. »Aber eben mit der stufenweisen Abnutzung haben diese hirnverbrannten Forschungen angefangen…« Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster.
»Was ist denn eigentlich mit Neumann passiert?« fragte Assja neugierig. »In den Zeitungen war von einem rätselhaften, plötzlich eingetretenen Tod die Rede. Dabei soll er völlig gesund gewesen sein… Was haben Sie, meine Gute?« rief sie, als sie Galina weinen sah. »Beruhigen Sie sich! Igor, bring mal rasch ein Glas Wasser!«
»Nicht nötig!« Galina atmete gepreßt. »Wie es scheint, haben sich meine schlimmsten Befürchtungen… Michail Petrowitsch, öffnen Sie das Paket!«
Michail schüttelte nachdenklich den Kopf. In diesem Augenblick läutete das Telefon, und er griff rasch zum Hörer.
»Doktor Lewitski?« fragte eine Stimme. »Hier spricht der Direktor des Seehafens. Ich habe über UKW Verbindung mit der ›Balaklawa‹ aufgenommen. In der Passagierliste gibt es keinen Georgi Platonow.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Michail und legte auf. »Auf der ›Balaklawa‹ ist er nicht.«
»Dann ist er also noch hier!« rief Igor aus.
»Ja, Kara-Burun kann man nur mit dem Schiff verlassen«, bestätigte Assja. »Meine Liebe, Sie brauchen sich nicht aufzuregen…«
»Ich gehe.« Galina ging auf die Tür zu. »Ich werde ihn suchen.«
»Ich komme mit.« Igor sprang auf.
»Einen Augenblick.« Michail vertrat ihnen den Weg. Auf seinem hageren, schmallippigen Gesicht malten sich Ernst und Besorgnis. »Hören Sie auf mich, Galina. Lassen Sie uns logisch vorgehen. Georgi hat seine Koffer mitgenommen, und die sind ziemlich schwer. Mit so einer Last wird er wohl kaum durch die Stadt spazieren. Wahrscheinlich hat er sich in einem Hotel einquartiert oder die Koffer zur Gepäckaufbewahrung im Hafen gebracht. Per Telefon bekommen wir das alles viel schneller heraus, als wenn Sie jetzt durch die Stadt laufen. Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. In unserer Stadt gibt es nur drei Hotels.«
Galina nickte und trat ans Fenster.
»Igor, geh dich endlich waschen«, sagte Michail leise und griff zum Telefonhörer.
Er rief das Hotel »Jushny« und anschließend die beiden anderen Hotels an, überall aber hieß es: Nein, ein Georgi Platonow wohne nicht bei ihnen.
Michail warf einen Blick auf die Uhr, rief im Sanatorium »Langlebigkeit« an und bat den Chefarzt um Erlaubnis, heute eine Stunde später zu kommen. Dann trat er in komplizierte Verhandlungen mit der Leitung des Seehafens ein und erfuhr schließlich, daß am Morgen dieses Tages kein Mensch namens Georgi Platonow zwei große Koffer in die Gepäckaufbewahrung gebracht habe.
Galina stand indessen reglos am Fenster, während Igor, der gar nicht daran dachte, sich waschen zu gehen, mechanisch in den von Onkel Georgi zurückgelassenen Büchern blätterte.
»Dann bleibt nur noch Chalzedonowaja«, sagte Michail und wählte die Nummer der Kurortvermittlung.
»Still!« rief Galina plötzlich. »Jemand kommt durch den Garten.« Sie lehnte sich aus dem Fenster.
Unter schweren Schritten knirschten Muscheln.
Galina lief auf die Veranda hinaus, und die anderen folgten ihr.
Über den Gartenweg schritt ein schwerfälliger Mann in weißem Netzhemd und derben Leinenhosen, mit Sandalen an den barfüßigen Beinen. An seiner Stirn klebte eine graue Haarsträhne, und große Schweißperlen rollten über sein kupferfarbenes Gesicht.
»Philipp!« Igor lief dem alten Schuhmacher entgegen.
»Guten Tag, mein Junge«, sagte Philipp, mühsam nach Atem ringend. »Guten Tag allerseits.«
Er stieg auf die Veranda und setzte sich auf einen Stuhl.
Vier besorgte Augenpaare schauten den alten Mann erwartungsvoll an.
»Es hat einmal eine Zeit gegeben, da ich bei steilen Anhöhen Lust bekam zu singen«, sagte Philipp, der geräuschvoll und hastig
Weitere Kostenlose Bücher