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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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die löslichen Eiweiße nehmen beständigere Formen an… na, und so weiter. Ich will damit sagen, daß sich der Organismus den altersbedingten Veränderungen anpaßt, und wir Altersmediziner betrachten es als unsere vornehmste Aufgabe, diese Anpassung soweit wie möglich zu stabilisieren.«
»Ganz richtig, Michail, aber hast du noch nie daran gedacht, daß der Organismus… Doch lassen wir das«, unterbrach sich Platonow. »Für Assja ist das ein viel zu langweiliger Gesprächsstoff.«
»Aber nein, ich bitte Sie. Ich bin an solche Gespräche gewöhnt«, sagte Assja. »Was ich Sie schon immer fragen wollte: Arbeiten Sie in Leningrad?«
»Ja, nicht weit davon entfernt – in Borki. Das ist das Wissenschaftlerstädtchen…«
»Ja, natürlich«, sagte Assja, »wer kennt Borki nicht! Letztes Jahr war ein berühmter Physiker aus Borki bei uns zur Kur. Ein prächtiger Mensch, lustig und umgänglich. Wir alle waren geradezu verliebt in ihn.«
Platonow schaute sie aufmerksam an und hielt ihrem forschenden Blick stand.
»Assja«, sagte er, während er lächelnd seinen Gedanken nachhing, »Assja und Michail. Ich muß natürlich zugeben, daß mein Verhalten euch gegenüber nicht allzu höflich ist. Da schneit euch aus heiterem Himmel ein Onkel ins Haus, lebt schon die dritte Woche bei euch und hat noch keine drei Worte über sich selbst und seine Arbeit verloren… Nein, nein, Michail, du brauchst gar nichts zu sagen, ich weiß, daß es so ist, und ich weiß auch dein Feingefühl zu schätzen. Also gut. Wahrscheinlich ist es an der Zeit, daß ich euch das eine oder andere erzähle…«
    Er schwieg eine Weile, rieb sich mit der Handfläche die Stirn und hob dann an: »Diese Idee kam mir vor vielen Jahren, genauer, im dritten Kriegsjahr. An euch war damals noch gar nicht zu denken, ich aber war jung und gesund wie ein Stier. Alles fing mit einer winzigen Kleinigkeit an. Für mich allerdings war es zu jener Zeit keine Kleinigkeit… Erinnerst du dich, Michail, wie es bei Dickens heißt? Der Staatsanwalt fragt Sam Weller, ob sich an jenem Morgen etwas Besonderes ereignet habe. Worauf Sam antwortet: ›Ich bekam an jenem Morgen einen ganz neuen Anzug, meine Herren Geschworenen, und das war für mich damals ein ganz besonderes und ungewöhnliches Ereignis.‹ – An jenem Morgen also bekam ich aus dem Lager einen neuen Ledermantel, und das war für mich ebenfalls ein ungewöhnliches Ereignis. Wir jungen Flieger machten uns gern ein wenig schick.
    Kaum hatte ich die Schulterstücke an dem neuen Mantel angebracht und die Kragenspiegel aufgenäht, als man mich auch schon abkommandierte. Eine Viertelstunde später befand ich mich bereits in der Luft. Ich war nicht einmal dazu gekommen, mir meine Fliegermontur anzuziehen. Nach einer weiteren Viertelstunde stieß ich auf einen Faschisten und ging zur Frontalattacke über. Dir, Igor, habe ich schon hundertmal davon erzählt, und du weißt, daß es hier vor allem auf die Nerven ankommt. Wer als erster schlappmacht und auszuweichen versucht, kriegt einen Feuerstoß in eine ungeschützte Stelle. Wir kamen einander immer näher, ich hatte ihn voll im Visier und er mich folglich auch. Da erwischte es mich. Im Eifer des Gefechts merkte ich es nicht einmal gleich und rückte weiter gegen ihn vor. Das alles, müßt ihr wissen, spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Er wich nach oben aus, zeigte mir seinen Bauch, und ich verpaßte ihm eins in den Ölkühler. Eine Rauchfahne hinter sich herziehend, ging er ab. Wie ich meine Maschine zu Boden brachte, weiß ich nicht mehr. Die Jungs erzählten mir später, die ganze Kabine sei voller Blut gewesen. Mit einem Wort, wie durch ein Wunder gelang mir die Landung. Man zog mich heraus, und ab ging’s ins Lazarett. Ich hatte sechs Durchschüsse in der Brust. Aber genug davon. Ich lag eine Weile im Lazarett, bis die Wunden verheilten. Als ich entlassen wurde, ging ich in die Kleiderkammer, und ich bekam meinen neuen Ledermantel zurück – noch heute kann ich mich ärgern, wenn ich daran denke… Vorn waren die Löcher ja winzig, der Rücken aber war total zerfetzt. Und da dachte ich mir: Es ist zum Verrücktwerden, an mir sind die Löcher zugewachsen, im Leder dagegen klaffen sie nach wie vor… Merkst du, worauf ich hinauswill, Neffe?«
    »Bis jetzt noch nicht«, erwiderte Michail.
»Ich bin auch nicht gleich daraufgekommen. Aber damals habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Natürlich war Krieg, und man hatte anderes im Kopf, und doch kam ich

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