Die Rekonstruktion des Menschen
zugeeilt war, hatte Igor sich leise in den Schatten der Bäume zurückgezogen. Später schlich er sich in einen entfernten Winkel des Gartens und setzte sich dort auf einen Felsvorsprung. Ihn erfaßte die dunkle Ahnung einer bevorstehenden Trennung, und Igor beschloß, um keinen Preis jemals zu heiraten, weil einem dort, wo eine Frau auftaucht, sofort alles verdorben wird.
Am nächsten Morgen war Platonow verschwunden.
Der erste, der ihn vermißte, war Igor. In den letzten drei Wochen hatte er sich daran gewöhnt, von Onkel Georgi in aller Herrgottsfrühe geweckt zu werden, an diesem Morgen aber wachte er von allein auf. Der Stand der Sonne sagte Igor, daß die gewöhnliche Aufstehzeit längst überschritten war. Mit dem unangenehmen Vorgefühl einer Veränderung ging er, mit seinen barfüßigen Beinen leise auftretend, ins Haus und öffnete die Tür zu Platonows Zimmer.
Der Onkel war nicht mehr da. Alle Geräte lagen unordentlich auf einem Haufen in der Ecke.
Klarer Fall. Onkel Georgi war allein in die Berge gegangen.
Eine schlimmere Kränkung hatte ihm, Igor, noch niemals jemand zugefügt. Um nicht in Tränen auszubrechen, kletterte er rasch auf einen Nußbaum, den höchsten Baum im Garten und blickte aufs Meer hinaus, das zu dieser frühen Stunde in hellen Blau- und Silbertönen schimmerte. Aus der Bucht entfernte sich ein weißes Schiff, das langsam nach rechts steuerte.
Die »Balaklawa«, dachte Igor. Er stellte sich vor, wie er eines schönen Tages auf einem weißen Schiff Kara-Burun verlassen und nach Borki fahren, wie er bei Onkel Georgi leben und ihm bei seiner Arbeit helfen würde. Immer wieder warf er einen Blick auf die Straße und hielt Ausschau, ob Onkel Georgi noch nicht zurückkehrte, und er malte sich aus, wie trocken er den Gruß des Onkels erwidern und wie er sich erst eine Weile zieren würde, ehe er dessen Vorschlag annähme, ans Meer hinunterzugehen.
In diesem Augenblick betrat jene Frau, die gestern hier aufgetaucht war, die Veranda. Sie trug einen leichten blau und weiß gemusterten Sarafan, schaute sich besorgt nach allen Seiten um und ging wieder ins Haus. Kurz darauf erschien der Vater auf der Veranda. Auch er schaute sich um, ordnete eine Weinrebe und rief: »Igor!«
Igor meldete sich unlustig.
»Komm mal schnell ‘runter«, sagte der Vater. »Hast du Onkel Georgi heute früh gesehen? Nein? Wohin ist er gegangen?«
Die Stimme des Vaters klang ungewöhnlich, und Igor begriff, daß etwas passiert war.
Ein wenig später standen sie alle in Onkel Georgis Zimmer. Michail drehte in seinen Händen ein großes, zugeklebtes Paket, auf dem in deutlicher Schrift stand: »Für Michail Lewitski. Nicht vor dem Morgen des 24. August zu öffnen.« Das bedeutete: morgen früh…
Platonows Sachen waren verschwunden, er hatte seine beiden Koffer mitgenommen. Nur die Geräte, ein leerer Schuhkarton und zwei, drei Bücher waren zurückgeblieben.
»Er wird doch nicht abgereist sein, ohne sich zu verabschieden?« Assja schüttelte den Kopf. »Ohne uns ein Wort zu sagen…«
Galina blickte auf das Paket in Lewitskis Händen. Mit starrem, unverwandtem Blick schaute sie auf das Paket, und ihre hellbraunen Augen waren voller Sorge.
»Er ist abgereist?« fragte Igor bestürzt.
Ihm fiel die »Balaklawa« ein, die Kara-Burun vor kurzem verlassen hatte.
»Das werden wir gleich klären«, sagte Michail und ging, ohne das Paket aus der Hand zu legen, zum Telefon.
Er rief den Dispatcher des Seehafens an, der sich bereit erklärte, Funkverbindung mit der »Balaklawa« aufzunehmen.
»Michail Petrowitsch«, sagte Galina mit hoher, klangvoller Stimme, »ich bitte Sie sehr: Öffnen Sie das Paket.«
»Nein, Galina«, erwiderte er, »das kann ich nicht.«
»Seltsame Manieren sind das«, murmelte Assja. »In seinem Alter noch solche Fisimatenten zu machen…«
Galina schaute sie an.
»Verzeihen Sie meine unangebrachte Neugier… Sie ahnen nicht, wie wichtig das ist… Wissen Sie, wie alt Georgi… Georgi Iljitsch ist?«
»Das kann ich Ihnen sagen«, entgegnete Michail. »Onkel Georgi ist zwölf Jahre älter als seine Schwester, meine verstorbene Mutter. Er muß jetzt dreiundsiebzig oder vierundsiebzig sein.«
»Über siebzig… Mein Gott!« flüsterte Galina und preßte die Handflächen an ihre Wangen.
Nun war die Reihe an Assja, sich zu wundern.
»Sie arbeiten mit ihm zusammen und wissen nicht, wie alt er ist?«
»Er hat nie davon gesprochen… Ich habe auch nicht lange mit ihm zusammengearbeitet, nur vier Jahre… Aber die
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