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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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atmete.
»Haben Sie Onkel Georgi gesehen?« fragte Igor ungeduldig. »Wo ist er jetzt?«
»Ich grub unter meinem Felsen gerade nach Angelwürmern – die Sonne war noch nicht aufgegangen«, erzählte Philipp, wobei er mit dem kleinen Finger über seine struppige graue Augenbraue strich. »Da kam er zu mir, in jeder Hand einen Koffer und zwischen den Zähnen einen Grashalm. ›Philipp, ich reise ab, kann ich die Koffer vorläufig bei. Ihnen abstellen?‹ – ›Nun, wenn Sie keine Atombombe drin haben‹, sagte ich, ›dann stellen Sie sie dort in die Ecke, unter die schöne Goffi.‹ Wir setzten uns und nahmen ein kleines Frühstück mit Tomaten und Käse zu uns. Er aß wenig und sprach noch weniger.« Philipp legte eine Pause ein und schaute Galina mit einem langen, anerkennenden Blick an. ›»Wie alt sind Sie eigentlich?‹ fragte er mich, und ich sagte: ›Es ist besser, wenn der Mensch sein Alter nicht kennt, denn…‹«
»Wo ist er?« unterbrach ihn Galina. »Wenn Sie es wissen, sagen Sie es uns einfach: Wo ist er?« Philipp schüttelte den Kopf.
»Das wäre zu einfach, meine Schöne«, meinte er. »Aber Sie sollen alles erfahren, was ich weiß. Der Mann, der Sie so sehr interessiert, nahm ein Paar Schuhe aus seinem Koffer und schenkte es mir. ›Diese Schuhe nutzen sich nie ab‹, sagte er. ›Sie sind das beste Geschenk, das ich einem Fachmann wie Ihnen machen kann.‹ Ich nahm die Schuhe; da ich aber nicht an das ewige Leben der Schuhsohlen glaube…«
»Mein Gott, ist es nicht möglich, uns ganz einfach und menschlich zu sagen, wo er ist?«
»Menschlich? Soso, menschlich… Nun, er schüttelte mir zum Abschied die Hand und stieg den Dreimeilendurchgang hinauf. Wie er sagte, wollte er ein wenig Spazierengehen. Ich setzte mich an die Arbeit und machte mir Gedanken über sein Gesicht. Irgendwie war es mir merkwürdig vorgekommen. Und ich machte mich auf den Weg, um Ihnen das mitzuteilen, was Sie soeben gehört haben. Menschlich… Bring mir mal einen Schluck Wasser, mein Sohn.«
»Mama wird es Ihnen gleich bringen!« Igor lief schon in den Garten hinunter. »Ich weiß, wo man ihn suchen muß!« Die Stimme des Jungen ertönte bereits hinter den Bäumen. »Ich werde ihn finden!«
Das Gartentor schlug zu.
Philipp trank das Glas Wasser aus, schaute Galina noch einmal an, nickte und ging auf das Gartentor zu. Unter seinen schweren Schritten knirschten die Muscheln. Michail begleitete den alten Mann hinaus.
»Doktor, ich wollte Sie schon lange einmal darum bitten«, sagte Philipp, die Hand auf der Klinke, »mir etwas zu verschreiben, damit ich im Schlaf nicht so schwitze.«
    Igor lief über die holprigen Platten des Dreimeilendurchgangs, und das harte, aus den Ritzen wuchernde Gras zerkratzte ihm die bloßen Füße. Er war nur in Turnhosen aus dem Haus gelaufen und hatte nicht einmal seinen Panamahut aufgesetzt. Jetzt schien ihm die Sonne direkt auf den Kopf.
    Igor lief, so schnell er konnte.
Der Weg wurde immer steiler. Igor geriet außer Atem und ging in einen raschen Schritt über. Er bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen und regelmäßig Luft zu holen, so wie Onkel Georgi es ihn gelehrt hatte. Vier Schritte, einatmen; vier Schritte, ausatmen.
    Igor wußte selbst nicht, warum er sich so beeilte. Bisher hatten ihn Dinge und Erscheinungen umgeben, die so einfach und klar waren wie das Tageslicht. Die jüngsten Ereignisse aber – das Eintreffen jener unbekannten Frau, Onkel Georgis unbegreifliche Flucht und Philipps Besuch – hatten den Jungen aus dem Gleichgewicht gebracht. Er wollte nur noch eins: sich an Onkel Georgis starker Hand festhalten – dann würde alles wieder gut und so wie früher werden.
    Er erreichte das Ende des Dreimeilendurchgangs. Linker Hand führte ein Waldweg zur Chalzedonowaja-Bucht, Igor aber wußte, daß der Onkel diesen Weg nicht mochte: Er zog stets die Nähe des Meeres vor. Deshalb schlug Igor, ohne zu zögern, den schmalen, nach rechts verlaufenden Pfad ein, der in Zickzacklinien zur Schlucht führte. Eine Weile lief er, sich durch wildes Granatapfelgestrüpp einen Weg bahnend, im Schatten der Eisenbahnbrücke, stieg dann zwischen Nußbäumen den gegenüberliegenden Hang der Schlucht hinauf und betrat den zum Meer führenden Steilhang.
    Hier ruhte er sich ein wenig aus und rieb seinen großen Zeh, den er sich schmerzhaft an einer Wurzel gestoßen hatte.
Nun ging Igor den schmalen Felsvorsprung entlang. Er bemühte sich, nicht in die Tiefe zu schauen, dorthin, wo

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