Die Rekonstruktion des Menschen
unter dem Steilhang blau das Meer leuchtete. Er ging langsam, mit der linken Schulter die Felswand streifend, und beschrieb vorsichtige Bogen um das sich hier und da über den Vorsprung windende Brombeergestrüpp. An einer Stelle erblickte er eine niedergetretene Ranke und zerdrückte Beeren – das schien seinen Gedanken zu bestätigen, daß Onkel Georgi ebendiesen Weg gewählt habe.
Ja, er war ganz in der Nähe. Wahrscheinlich hinter jener Felsnase, von der sich der Blick auf die Strände von Chalzedonowaja auftat. Noch etwa zehn Meter…
Plötzlich setzte ein so ohrenbetäubendes Donnern und Brausen ein, daß Igor zusammenschrak. Ein Elektrozug ratterte auf der stählernen Brücke über die Schlucht und folgte seiner in die Felsen geschlagenen Bahn, die oberhalb des Felsvorsprungs, direkt über dem Kopf des Jungen, verlief. Obwohl Igor wußte, daß er den Zug von hier nicht sehen konnte, legte er unwillkürlich den Kopf in den Nacken, und in diesem Augenblick trat sein Fuß ins Leere.
Er verlor den Halt…
Seine Hände klammerten sich verzweifelt an den Felsvorsprung, rutschten aber von den glatten, abgeschliffenen Steinen ab. Im selben Moment spürte Igor, daß sich ein stachliger Zweig an seinen Bauch preßte. Er griff mit den Händen in das Gestrüpp und hing, während seine Füße vergeblich nach einem Halt suchten, über dem Abgrund.
»Onkel Georgi-i-ii!«
»I-ii…« So warfen die Berge das Echo zurück.
Kurz zuvor war Georgi Platonow auf dem Felsvorsprung zu jener Stelle hinter der Felsnase gelangt, von der man auf die Chalzedonowaja-Bucht hinabschauen konnte.
Hier blieb er stehen, lehnte sich mit dem Rücken an den warmen Stein und schob seine Mütze in den Nacken.
Hier sah ihn niemand, und er brauchte nicht auf seinen Gesichtsausdruck zu achten.
Hier war er allein – allein mit seinen Gedanken.
Vor ihm lag das weite, von der südlichen Sonne erwärmte Meer. Er sah die grünen Berghänge, die gelben Strände und die weißen Gebäude. Zwei Wegstunden von hier entfernt erwartete ihn eine wunderbare Frau…
Von alldem aber hatte er sich schon unendlich weit entfernt.
Er wußte, daß er nicht länger zögern durfte, konnte seine Gedanken aber nicht von Galina losreißen.
Du mußt verstehen, daß mir keine andere Wahl blieb als die Flucht. Du hättest mich nur gestört. Ich brauchte mein seelisches Gleichgewicht, um mein Werk vollenden zu können. Du hättest mir dieses Gleichgewicht genommen, und deshalb bin ich heimlich abgereist, vor dir geflohen. Es war das beste – für uns beide. Später wäre dir aus meinen Aufzeichnungen, die Michail nach Borki geschickt hätte, alles klargeworden. Die Zeit heilt alle Wunden.
Du aber hast mich ausfindig gemacht.
Du hast mich ausfindig gemacht.
Wie soll ich dir, meine Einzige, erklären, daß ich nicht mehr dem Leben angehöre? Ja, ich bin gesund und bei Kräften – trotz meiner vierundsiebzig Jahre. Meine Bewegungen sind sicher, die Muskeln voller Kraft, und das Herz schlägt regelmäßig. In wenigen Stunden aber… In zehn Stunden und zwanzig Minuten…
Der arme Neumann war immerhin besser dran, er hat es nicht gewußt.
Das von mir entdeckte Gesetz der Begrenztheit des Stoffwechsels ist unumgänglich und wirkt unfehlbar. Es gibt nichts, was mich retten könnte. Niemand und nichts, nicht einmal du. Und trotzdem… Das tollkühne Experiment, das ich hier vorgenommen habe, eröffnet gewisse Möglichkeiten… Nein, nicht für mich. Für die anderen, die nach mir kommen werden… Vielleicht gelingt es ihnen, wenn sie meine Hinweise befolgen, die Begrenztheit des Stoffwechsels aufzuheben. Dann hätte ich hier, in dieser Abgeschiedenheit und Stille nicht umsonst gearbeitet…
In Abgeschiedenheit und Stille?
Ich will mir nichts vormachen. Es war keine völlige Abgeschiedenheit.
Ich konnte ja nicht ahnen, daß ich hier diesem Jungen begegnen würde.
Hätte ich es geahnt…
Aber genug gegrübelt.
Platonow blickte auf die Uhr. Der Sekundenzeiger beschrieb, unbeirrbar die Zeit messend, seine Kreise.
Er mußte sich aufraffen.
Über seinen Kopf ratterte der Elektrozug. Er brachte fröhliche, gutgekleidete Männer und Frauen zu den samtweichen Stränden.
Nun, Georgi Platonow, willst du nicht endlich den Rücken von dem warmen Felsen lösen?
»Onkel Georgi-i-ii!«
Igor? Wie kommt er hierher?
Die um Hilfe rufende Stimme des Jungen brachte Platonow augenblicklich ins Leben zurück. Hastig eilte er den Felsvorsprung entlang und schob sich seitlich an der Felsnase vorbei… Beim
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