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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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kaum jemanden, der dem Blick seiner großen blauen Augen standhalten konnte.
»Aber nein«, versicherte ich eilig.
»Bis heute abend dann«, sagte Juli Michailowitsch. »Wenn ich mit der Berechnung des Startwinkels fertig werde, komme ich.«
Als sich die Tür hinter ihm schloß, seufzte ich erleichtert auf.
Ich zog die Blätter näher zu mir heran und warf einen Blick auf die Formeln und die Zeichnungen des Duralbogens im oberen Teil des Flugzeugrumpfes. Die Verbreiterung erfolgte in einem Winkel, der es ermöglichte, den Strom verdünnter Luft allmählich zu löschen. Diese Lösung, mit der sich neun unserer besten Konstrukteure zwei Jahre lang herumgeschlagen hatten, erwies sich als unwahrscheinlich einfach. Aus Erfahrung wußte ich, daß eine Nachprüfung überflüssig war. Einmal hatten wir zwei Monate auf die Überprüfung der von Juli Michailowitsch abgeleiteten Formeln für Brennstoff und Schmieröle verwendet, und im Verlauf von mehr als einem Quartal überprüfte meine ganze Abteilung – über hundert Konstrukteure, Ingenieure und Techniker – eine Tragflächenkonstruktion, die er innerhalb von drei Tagen entwickelt hatte, und doch konnten wir nicht den geringsten Fehler entdecken. Die Berechnungen waren ebenso fehlerfrei und exakt wie die Zeichnungen.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem wir die Auszeichnungen erhielten. Mein Name stand als erster auf der Liste, und ihm folgte der meines Stellvertreters, Grigori Gurjewitsch. Wir vermieden es, Juli Michailowitsch anzusehen, er aber kam, als wäre es das Natürlichste von der Welt, um uns zusammen mit den anderen Mitarbeitern zu gratulieren. So war ich gezwungen, seine heiße Hand zu drücken. Anstatt mich zu bedanken, sagte ich zu ihm: »Man wird Sie auch gleich rufen.«
Das waren Worte der Entschuldigung, mit denen ich mich loskaufen wollte. Wir empfanden beide die Peinlichkeit der Situation.
Zum Glück wurde er zur Auszeichnung auf die Bühne gerufen, und ich zog mich eilig zurück.
Mein Stellvertreter beging einen unverzeihlichen Fehler. Er lud Juli Michailowitsch ein, mit allen zusammen die Prämienverleihung im Restaurant zu feiern.
Die ersten Trinksprüche waren bereits ausgebracht, die ersten Gläser geleert. Die Frauen bekamen glänzende Augen und heiße Wangen, die Männer wurden redseliger und benahmen sich ungezwungener, der für Juli Michailowitsch bestimmte Sessel aber blieb leer. Meine Frau fragte mich einmal im Vorübergehen: »Wo ist denn dein neuer Mitarbeiter?«
»Er kommt später«, erwiderte ich in der Hoffnung, Juli Michailowitsch möge sich entschließen, überhaupt nicht zu kommen.
Er entschloß sich jedoch nicht dazu. Noch bevor ich mich umwandte, erkannte ich allein daran, wie sich die Augenbrauen der Frauen hoben und ihre Hälse plötzlich länger wurden, daß er den Saal betreten hatte.
Juli Michailowitsch setzte sich in den freien Sessel, und augenblicklich streckten sich mehrere Hände nach seinem Teller aus: Seine Nachbarinnen zu beiden Seiten und selbst die ihm Gegenübersitzenden bemühten sich um ihn, obwohl es gar nicht so einfach war, über den Tisch zu langen. Sein Teller war bereits überfüllt, und in seinem Glas leuchtete bernsteinfarbener armenischer Kognak.
Man muß Juli Michailowitsch Gerechtigkeit widerfahren lassen: Er tat alles, um nicht aufzufallen. Wie es aber oft geschieht, goß er dadurch nur Öl ins Feuer…
Um den bereits lästig werdenden Glückwünschen zu entgehen, beschloß ich, mit meiner Frau zu tanzen. Ihr Sessel am Tisch war jedoch leer.
»Hast du Lida gesehen?« fragte ich Grigori Gurjewitsch.
»Meine Frau ist auch verschwunden«, meinte Grigori lachend. »Wahrscheinlich ist deine da, wo auch meine ist. Komm! Wir brauchen nur nach ihm zu suchen.«
»Warum das?« fragte ich erstaunt.
»Du wirst schon sehen.« Er zog vielsagend die Augenbrauen hoch.
Wir vernahmen Juli Michailowitschs Stimme, ihn selbst aber bekamen wir nicht zu Gesicht – er war von einer dichten Frauenmenge umringt. Wie in jeder Menschenansammlung, so wirkte auch hier das Gesetz der Neugier: Wenn dem einen etwas interessant erscheint, will auch der andere erfahren, was los ist.
Von Zeit zu Zeit tauchte einer der Männer auf und führte seine Frau, seine Braut oder auch einfach eine Bekannte beinahe mit Gewalt fort. Augenblicklich schloß sich der Kreis wieder um Juli Michailowitsch, und aus den hinteren Reihen beeilte man sich, den frei gewordenen Platz einzunehmen.
Einige Frauen waren allerdings am Tisch geblieben und

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