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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Gäßchen, ein Nistplatz für Krankheit und Laster, kaum einer wollte nach dem Krieg dort wohnen. In den Häusern, die wohl im Mittelalter gebaut worden waren, gab es weder Kanalisation noch Wasser, und die Abfälle wurden in den Hof geworfen. Es waren nur ein paar Alteingesessene hiergeblieben. Und Stein.
    Ich klopfte lange an die Tür seiner Mansarde. Er hatte weder eine Klingel noch ein Namensschild, seinen Namen hatte jemand mit Kreide an die Tür geschmiert.
»Herr Stein ist nicht zu Hause«, ertönte es aus dem Erdgeschoß. Eine alte Frau hatte es gerufen, sie war bucklig und sah aus wie eine böse Fee aus dem Märchen. »Herr Stein ist in letzter Zeit überhaupt kaum zu Hause. Er geht jetzt jeden Tag zum Vergnügen, und nach Hause kommt er jeden Tag nach Mitternacht. Und in Begleitung…« Sie lächelte giftig. »Jeden Tag mit einer anderen…«
    Wohin konnte er gehen? In der Stadt gab es damals nur drei Nachtbars, obwohl vor dem Krieg in jedem zweiten Haus eine Bar gewesen sein soll. Sogar eine Negerrevue mit Nackedeis direkt aus Paris soll es hier irgendwo gegeben haben. Aus der Umgebung, die gar nicht malerisch ist und in der die Stadt eigentlich eine Art Oase war, mit Bädern, an deren tatsächliche Heilwirkung keiner glaubte, kamen die Kohlenbarone hierher, um Geld auszugeben. Nach dem Krieg waren von den ehemaligen Bars nur drei geblieben. Die erste Bar am Platz, im Hotel »Zum Rathaus«, die zweite im ersten Stock eines modernen Gebäudes, die dadurch berüchtigt war, daß der Pförtner wie ein Boxer die betrunkenen Randalierer direkt aus dem Fenster auf die Straße warf, und die dritte, bisher in Privathand, im Souterrain eines kleinen Hauses in der Vorstadt, wo sich die letzten Reste der Unterwelt dieser Stadt trafen – die kam seit jeher –, gemeinsam mit den letzten Resten der sogenannten vornehmen Gesellschaft – und die kam, um ihre Sympathie für das private Unternehmen zu demonstrieren. Dort fand ich ihn. Inmitten von Mädchen. Er hatte gleich drei um sich. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ihn das gekostet haben mochte, denn auch die Prostituierten starben hier aus, und ihre Tarife wuchsen entsprechend. Eine von ihnen entsprach der Beschreibung: Sie war groß, brünett, mit rabenschwarzen Haaren und griechischem Profil, nur ihre Beine waren nicht lang, und in den Hüften war sie sehr breit, eigentlich dick. Wie überrascht war ich, als ich in ihr die Frau erkannte, die uns bei der Direktion angezeigt hatte. Ich wagte nicht, mich dazuzusetzen, und Stein schien mich nicht zu sehen. Er beschäftigte sich nur mit dieser dunkelhaarigen Frau und ihrer noch dickeren Freundin. Ich setzte mich an die Bar, wo ein Spiegel war, und beobachtete sie von hier aus. Nach Mitternacht erhoben sich Stein und die Rabenschwarze. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß er bei ihr hätte landen können. Er bezahlte die Rechnung, begleitete sie zum Ausgang und ließ einen Wagen rufen. In der ganzen Stadt gab es damals nur drei Taxis, die waren teuer, und in mir begann ein Verdacht zu keimen. Woher nahm der verkrachte Sänger und Pfleger soviel Geld? Ich ging ihnen zu Fuß nach. Zu ihrem Haus kam ich ungefähr nach einer Stunde, es war nicht verschlossen. Seine Bekannte ging gerade. Sie schloß auf der Treppe noch den Strumpfhalter. Stein verabschiedete sich höflich von ihr. Ich stellte meinen Fuß zwischen Tür und Schwelle.
    »Ich muß mit Ihnen sprechen, Herr Stein…« Jetzt konnte er mich nicht hinauswerfen. Die Frau fragte, ob ich etwa eifersüchtig wäre, und verschwand mit einem zweideutigen Lachen. Er bat mich nicht einmal in die Wohnung. Ich bemerkte nur, daß fast gar nichts darin war, nur drei Matratzen direkt auf dem Boden und ein Tisch mit einem Stuhl am Fenster, auf dem Tisch in Gläsern menschliche Embryos, wie sie sich im Mutterleib entwickeln und wie man sie bei Abtreibungen bekommen kann, Föten in verschiedenen Phasen. Sie waren widerlich gemasert, ein seltsamer Anblick, dieser einzige Schmuck in Formalin verlieh der Wohnung keine Gemütlichkeit. »Sind Sie sich darüber im klaren, was Sie tun?« begann ich. Aber er fuhr mich gleich an. Ich solle mich nicht um fremde Angelegenheiten kümmern. Er habe mich bei der Untersuchung in der Direktion in nichts hineingezogen, was er tue, tue er auf eigene Verantwortung, mich gehe das nichts an, ich solle mich um mich selbst kümmern.
    »Aber wo Sie sich mir schon anvertraut haben…« Er lachte. Ich würde doch nicht etwa dieses versoffene Gequassel

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