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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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niemandem mit, als ob er vom Erdboden verschwunden wäre. Ich dachte längst nicht mehr an seine Pläne, ich hatte genug eigene Arbeit. Bis mir durch puren Zufall beim Friseur eine Musikzeitschrift in die Hände fiel. Auf der letzten Seite war eine kurze Meldung über einen Gesangswettbewerb von Kindern. In der Kategorie der Dreizehnjährigen gewannen drei Mädchen den zweiten Preis, deren Fotos veröffentlicht waren. Sie sahen aus wie Drillinge. Ich nahm die Zeitschrift mit nach Hause und suchte ein Bild der D-ová aus ihrer Jugendzeit, darauf trug sie Zöpfe. Die drei Mädchen hatten eine moderne Frisur, einen sogenannten Pferdeschwanz. Aber ansonsten glichen sich alle vier Bilder wie ein Ei dem andern. Wie war es möglich, daß die Jurymitglieder des Wettbewerbs die berühmte Sängerin unserer Großeltern vergessen hatten? Hatte wirklich keiner dieses Gesicht gekannt? Und wie war es möglich, daß sie nur den zweiten Platz bekommen hatten? Den ersten Preis verlieh die Jury einer Marenka Slabihoudova aus Brandys. Ihr Foto war an herausragender Stelle veröffentlicht worden, aber sie hatte ein Dutzendgesicht. Die drei Mädchen, die den zweiten Preis bekommen hatten, besaßen ein schönes, gleichmäßiges griechisches Profil und dunkle, rabenschwarze Haare. Also war Steins Versuch doch gelungen. Ich hatte mich schon vor längerer Zeit mit meinem Sohn zerstritten, der vor einem Jahr gegen meinen Willen geheiratet und mich überhaupt nicht zur Hochzeit eingeladen hatte. Längst hatte ich die Hoffnung aufgegeben, daß meine Tochter eine berühmte Tänzerin werden könnte, und ich war froh, als sie schließlich eine Stelle im Büro bekam. Athletik betrieb in der ganzen Verwandtschaft weit und breit keiner. Ich blieb allein mit meinen Lebensträumen und -zielen. Während Stein es geschafft hatte. Aber warum hatte er seine Entdeckung nicht der Menschheit übergeben? Warum war er nicht berühmt geworden? Ich trieb die Adressen der Drillinge auf. Jede wohnte woanders. Beim Wettbewerb war ihre Ähnlichkeit aufgefallen, die drei haßten sich deshalb. Prag am nächsten wohnte die Frau des Direktors. Es war eine Kleinstadt, sie hatten dort ein Haus mit einem Garten.
»Sie will immerzu nur singen, dieses Unglücksmädchen. Ist denn das etwa eine Existenz? Heutzutage müßte sie Technik studieren. Technik oder orientalische Philologie. Das sind Fächer der Zukunft. Das würde ich machen…« Das Problem wiederholte sich. Ich fragte vorsichtig nach Stein. Sie stritt ab, daß überhaupt jemand dieses Namens gelebt haben sollte. Sie hatte ihre Tochter als Kind des Krankenhausdirektors erzogen. Und so war es sicherlich auch bei den anderen. Alle drei Frauen hatten sich ihr Leben ohne Stein eingerichtet. Ich mußte noch nach dem Wettbewerb fragen. Warum hatte sie nur den zweiten Platz bekommen?
»Wissen Sie, da war zu starke Konkurrenz. Meine Tochter soll sehr gut singen, aber es hatten sich noch zwei mit völlig gleichem Fond und gleicher Stimmfarbe gemeldet. Und schließlich gewann die Slabihoudova. Sie war ein bißchen anders…«
Ich kehrte mit dem Vorortzug nach Prag zurück. Stein hatte seinen Versuch offenbar nicht zu Ende gedacht. Der Triumph der D-ová beruhte gerade darauf, daß sie einmalig war. Genialität ist ungewöhnlich. Einzigartig. Wenn alle genial wären, würde mit diesem Wort bald etwas anderes bezeichnet. Wenn wir alle die Eigenschaften unserer Kinder bestellen könnten, wäre die Welt bald voller konfektionierter Erscheinungen, wie in einer Fabrik genäht, wo die augenblickliche Mode das gemeinsame Maß bestimmt. Die Menschen würden sich vereinfachen wie Insekten. Wenn jede Frau schön wäre, würden wir uns bald nach den häßlichen umdrehen, wenn jeder Mann ein genialer Mathematiker wäre, würde sich bald niemand mehr um Mathematik kümmern.
Ich begriff, warum Stein seine Entdeckung für sich behalten hatte.
Ihor Rossochowatsky
Mein Untergebener
1
     
»Bitte«, sagte Juli Michailowitsch und legte ein paar Blätter mit Formeln und Zeichnungen auf meinen Tisch.
    Ich unterdrückte einen Seufzer – es war kein Seufzer der Erleichterung – und erwiderte: »Sehr gut. Wir werden es nachprüfen und dann ans Werk weiterleiten.«
    Er war bereits an der Tür, als ich ihn mit der Frage aufhielt: »Kommen Sie heute abend auch?«
»Wenn Sie nichts dagegen haben…«, entgegnete Juli Michailowitsch und senkte den Blick. Dies tat er jedoch nicht rasch genug, und mir stockte für einen Augenblick der Atem, denn es gab

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