Die Rekonstruktion des Menschen
glauben? Er habe sich das an jenem Nachmittag alles ausgedacht, um sich irgendwie herauszureden, um zu begründen, warum er mir den Alkohol ausgetrunken habe. Ich hätte ihn doch nicht etwa ernst genommen? Er schob mich vor die Tür.
Vor dem Haus traf ich die Frau wieder. Die Straße war hier eng, wir mußten aneinander vorbeigehen. Da erst bemerkte ich, daß es jemand anders war, sie war viel schlanker, die Haare waren hell, sie lief mit abgewandtem Gesicht an mir vorbei, als würde sie sich schämen. Ich mußte mich an der Wand festhalten. Das war doch die Frau unseres Direktors. Ich sah mich nicht um, ich ging weiter und hörte hinter mir das bekannte Knarren der Tür von Steins Haus. Zu der Alten im Erdgeschoß ging sie bestimmt nicht.
Also das war nun wirklich eine Überraschung. Eine der ersten Damen der Stadt und gleichzeitig die Prostituierte aus der Bar. Dabei hatten sie tatsächlich etwas Gemeinsames. Ich mußte mir irgendwo ein Bild der D-ová beschaffen. Vielleicht hatten sie eins in der Stadtbibliothek. Sollte sie eine Doppelgängerin in der Stadt haben? Aber wie hatte er sie gewonnen? Die Frau des Direktors ließ sich doch nicht bezahlen, und für Geschenke hätte er kein Geld gehabt. Sie war zwar schon älter, aber hier konnte sie wählen. Warum hatte sie sich für so einen käsigen, häßlichen Kerl entschieden? Die Frauen sind unerforschlich. Ein wenig beneidete ich Stein. Da hatte ich seine Pläne noch nicht begriffen.
Der Versuch
Nach einer Woche erwartete mich in der Apotheke die Tochter unseres Direktors, eine siebzehnjährige Schönheit. Bald verstand ich alles. Sie entsprach Steins Beschreibung, nur das Näschen war etwas aufgeworfen, sie war entzückend.
»Ich bitte Sie, Fräulein, was hat Sie an ihm angezogen? Womit hat er Sie bezaubert? Ein fünfzigjähriger Kerl. Der könnte doch Ihr Großvater sein.«
»Er tat mir leid…« Das Mädchen weinte. »Und er hat versprochen, daß er mich heiratet, er wollte ein Kind mit mir…«
Mit einemmal begriff ich alles.
»Aber als ich das meiner Mutter sagte, hat sie sich furchtbar aufgeregt, sie war außer sich, sie schlug mich mit der Peitsche. Ich bin weggelaufen. Ich geh’ nicht mehr zurück.«
»Und der Vater?« fragte ich. Der Direktor des Krankenhauses war Chefarzt in der Orthopädie. Dieser Mann mußte täglich bei Operationen Muskeln und Knochen festhalten, das ist eine anstrengende physische Arbeit. Orthopäden sind Kraftmenschen. Und von ihm war bekannt, daß er streng war.
»Vater würde mich totschlagen«, sagte sie. Sie übertrieb wie alle jungen Menschen. »Ich muß Herrn Stein finden.«
»Das wird nicht so schwer sein. Er ist in der Hautabteilung.«
»Dort ist er eben nicht. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Er ist heute überhaupt nicht auf der Arbeit gewesen.«
»Und in der Wohnung?«
»Dahin trau’ ich mich nicht. Dahin ist meine Mutter gerannt, gleich nachdem ich es ihr gesagt hatte…«
Ich ging also für sie. Aber Stein fand ich nicht. In seiner Wohnung war nur die Frau Direktor, die die Tür eingeschlagen hatte.
»Und er hat mir so leid getan«, empörte sich die Direktorin. »Ich dachte, er braucht Schutz, Zuneigung. Der Halunke. Sie können ihm ausrichten, daß ich ihn überall finden werde. Mir entkommt er nicht.« Sie wütete, stampfte, knirschte mit den Zähnen. Wer hätte sich so einen Betrug träumen lassen. An diese ganze Affäre erinnerte ich mich nach sieben Monaten, als in unserem Kreißsaal die Brünette aus der Nachtbar ein Kind gebar. Ich ging mir heimlich das Kind ansehn. Aber Neugeborene kann man nicht auseinanderhalten, es war ein Mädchen, drei Kilo vierzig, mit dunklem Flaum auf dem Kopf, sie brüllte wie alle anderen im Säuglingszimmer. Sie schrie und trank und schlief, ein anderes Talent ließ sich bislang noch nicht erkennen. Ihre Mutter zog dann bald weg aus der Stadt, ich selbst wurde versetzt. Ich erinnere mich nur, daß auch diese durchtriebene Frau ihre Bekanntschaft mit Stein ähnlich wie die anderen begründete: »Er war so schrecklich häßlich, er tat mir leid. Ich dachte, er hätte keine Frau, er hatte vielleicht nie im Leben eine gehabt. Also wollte ich ihm eine Freude machen. Und ich bin ganz froh. Ich hab das hübscheste Mädchen von allen hier.« Sie sah sich nach den anderen Müttern um… Aber ich stellte keinerlei Merkmale von Schönheit an ihrem Neugeborenen fest.
Seitdem waren fast vierzehn Jahre vergangen. Stein publizierte seine Entdeckungen nirgendwo, seinen Versuch teilte er
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