Die Rekonstruktion des Menschen
dir eigentlich nicht? Die Abteilung ist auf Probleme gestoßen, die sie nicht lösen konnte. Ihr wart völlig mit den Nerven herunter, habt bis tief in die Nacht hinein in verqualmten Räumen gehockt und die widerspenstigen Zahlen gehaßt, ihr seid auf den Widerstand des Materials gestoßen und gegen Naturgesetze angerannt. Zu Hause schlugen sich eure unbeaufsichtigten Kinder die Nasen an den Treppenstufen wund, die »armen Halbwaisen«, wie eure mit Scheidung drohenden Frauen sie nannten. Ihr habt davon geträumt, wieder einmal ins Kino zu gehen oder ein Buch zu lesen. Dir war klar, daß es nicht an eurer Unbegabtheit lag, sondern an den Supergeschwindigkeiten, den Supertemperaturen und dem Superdruck, für die die Natur weder den Menschen noch die irdischen Materialien geschaffen hat. Aber du und die anderen, ihr habt nicht aufgegeben. Ihr habt nach einem Weg gesucht, und ihr habt ihn gefunden. Wir Menschen haben ein Wesen geschaffen, das imstande ist, diese Schranken zu überwinden. Dieses Wesen verkörpert unseren Verstand, unsere Energie und unsere Ziele. So muß man es sehen.
Ich bemühte mich ehrlich darum, meiner Feindseligkeit Herr zu werden. Als Juli Michailowitsch mir das Projekt einer wandlungsfähigen Tragfläche brachte, suchte ich mir mit aller Kraft einzureden: Das ist genial! Jetzt wird der Stratoplan die Schranke überwinden. Wir werden sie überwinden! Indem ich mir immer wieder einredete: Jetzt werden wir die Schranke überwinden! entlockte ich meinem Gesicht sogar ein Lächeln.
»Sie helfen mir immer wieder aus der Klemme.« Unwillkürlich entfuhr mir der Zusatz: »… wie Mephisto dem Faust.«
Er fragte: »Wer ist Mephisto?«
»Haben Sie Goethe nicht gelesen?« fragte ich erstaunt zurück, als mir plötzlich einfiel, daß er kein Mensch, sondern ein Syhom war. Ich bemühte mich, es ihm zu erklären: »Goethe war ein großer Dichter. Das hat übrigens nichts mit Technik zu tun, so daß Sie es nicht unbedingt zu wissen brauchen.«
»Die anderen Menschen aber müssen es unbedingt wissen? Warum? Erklären Sie mir das bitte!«
»Kulturvolle Menschen, ja«, präzisierte ich. »Jeder große Schriftsteller erklärt die Welt und die Menschen auf seine Weise…«
»Die Menschen?« In seinen Augen blitzte Neugier auf. Sie glichen jetzt den Augen eines Kindes. Er konnte sich nicht der Frage enthalten: »Sie sagten: jeder große Schriftsteller. Also gibt es mehrere. Ich aber kenne nur einige Gedichte. Zum Beispiel dieses: ›Ich trat aus dem Wald, es war grimmiger Frost…‹«
»Das ist Nekrassow«, sagte ich, ein Lächeln unterdrückend. »Außerdem gab es noch Puschkin und Lermontow, Wells und Majakowski, Jules Verne, Balzac, Swift, Capek…«
»Einen Augenblick«, bat er. »Wiederholen Sie bitte noch einmal. Ich will mir die Namen merken.«
»Es sind zu viele«, bemerkte ich und wandte mich ab, um ihm meinen Gesichtsausdruck zu verbergen.
»Nennen Sie mir wenigstens die bedeutendsten«, beharrte Juli Michailowitsch.
Mir blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Eine gute Stunde lang zählte ich ihm die Namen von Schriftstellern auf.
Am nächsten Tag trat ich eine Dienstreise an und kehrte erst nach einer Woche zurück. Wie sich herausstellte, war Juli Michailowitsch in dieser Woche nicht im Konstruktionsbüro erschienen – er hatte sich von Grigori Gurjewitsch beurlauben lassen.
Am Montag kam er wieder und sagte mit einem zufriedenen Lächeln: »Ich bin müde wie Sisyphus, habe aber soviel geschafft wie Herakles. Oder… wie Robinson auf seiner öden Insel. Ich selbst glich ja einer öden Insel, auf der nichts gedieh.« .
Zwei Tage lang warf er mit Zitaten um sich und stellte sogar Vergleiche an. Dann versuchte er, eine Diskussion über die Helden Jules Vernes und Dostojewskis in Gang zu bringen. Besonders hatte es ihm Hemingways »Alter Mann« und SaintExuperys »Kleiner Prinz« angetan. Stundenlang konnte er daraus zitieren. Übrigens führte Juli Michailowitsch auch Zitate von Shakespeare und Feuchtwanger, Jefremow, Beljajew und vielen anderen im Munde…
Ich gab meinem Erstaunen Ausdruck: »Sie sagten doch, daß Sie nur einige Gedichte kennen.«
»Das war vor einer Woche«, meinte er. »Inzwischen war ich in der öffentlichen Bibliothek und habe alle Bücher gelesen, die es dort gibt.«
»Alle?« fragte ich. »All die hunderttausend Bände?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er, als sei es das Natürlichste von der Welt. »Und Sie hatten recht, das war wirklich nötig. Jetzt verstehe ich die
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