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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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an!«
»Gut, ich bin im Arbeitszimmer. Wenn du dich beruhigt hast, ruf mich.«
Ereignisse und Daten, Gesichter von Bekannten, gelesene Bücher, Bruchstücke von Filmen, physikalische Konstanten, Tensoren, Operatoren, Formeln, Formeln, Formeln. Ein weißes Kleid vor einem Baumstamm. »Wollen Sie mich nicht küssen, Clarence?« Rote Rosen, das Langrensche Theorem, ein Bratapfel, zu spät aus der Röhre genommen, Siegesfreude… Nein, er versteht wirklich nicht, was in Elsa gefahren ist.
    Ein festlich gedeckter Tisch. Neben einer Flasche alten Weins ein Hochzeitskuchen: Zwei Täubchen aus Krem halten die Zahl 75 in ihren Schnäbeln.
    »Schau mal – meine Überraschung: Der Wein ist auch fünfundsiebzig Jahre alt.«
Gott sei Dank, Elsa scheint sich beruhigt zu haben. Aber wieso fünfundsiebzig?
»Das ist sehr lieb, aber es stimmt nicht ganz. Ich bin doch nicht fünfundsiebzig, sondern hundert, und du, wenn ich mich recht entsinne, auch.«
Wieder dieser seltsame, bestürzte Blick.
Er schneidet ein großes Stück Kuchen ab und füllt Wein in die Kelche. »Auf die Unsterblichkeit!«
Sie stoßen an.
»Ich möchte«, sagte Clarence kuchenkauend, »daß du noch in diesem Jahr zur Inversion gehst. Dein Gehirn ist überlastet. Deshalb denkst du dir Ereignisse aus, die es nicht gegeben hat, verwechselst die Daten und bist über die Maßen nervös. Wenn du willst, ruf ich gleich morgen Leroi an. Die Operation ist kinderleicht.«
»Olaf« – Elsas Augen flehen, hoffen, gebieten –, »heute ist der dreiundzwanzigste August, erinnerst du dich wirklich nicht, was vor fünfundsiebzig Jahren an diesem Tag geschah?«
Ereignisse und Daten, Gesichter von Bekannten, Tensoren, Operatoren, Formeln, Formeln, Formeln…
»Am dreiundzwanzigsten August? Ich glaube, da hab’ ich meine letzte Prüfung gemacht. Ja, natürlich! Bei Elgart, drei Fragen, die erste…«
»Hör auf!«
Elsa rennt aus dem Zimmer, das Taschentuch an die Augen gedrückt.
Ja… Clarence schenkt sich Wein nach. Arme Elsa! Sie muß unbedingt gleich morgen zu Leroi!
Als Clarence das Schlafzimmer betritt, liegt Elsa bereits im Bett.
»Beruhige dich, Liebling. Deshalb mußt du doch nicht gleich weinen.«
Er faßt sie um die bebenden Schultern.
»Ach, Olaf! Was haben sie nur aus dir gemacht! Du bist wie ein Fremder, überhaupt nicht mehr du selbst. Warum hast du dich drauf eingelassen? Alles, aber auch alles hast du vergessen!«
»Du bist einfach übermüdet. Du hättest die Inversion nicht ablehnen sollen. Dein Gehirn ist überlastet, hundert Jahre – das ist kein Pappenstiel!«
»Ich hab’ Angst vor dir, wie du jetzt bist.«
»Wollen Sie mich nicht küssen, Clarence?«
6
    Das Unglück vergiftete mit seinem bösen Hauch den Duft der Rosen, sprengte die ebenmäßigen Reihen der Gleichungen. Das Unglück drang in seinen Traum ein, leise, leise. Es war hier, ganz nah. Mit geschlossenen Augen legte Clarence die Hand auf die Schulter seiner Frau.
»Elsa!«
    Er versuchte, ihre starren Augenlider zu öffnen, mit seinem Atem das steinerne Gesicht zu erwärmen, den kleinen Flakon aus den steifen Fingern zu winden.
    »Elsa!«
Niemand kann einen Stein zum Leben erwecken.
Clarence riß den Hörer von der Gabel…
    »Morphiumvergiftung«, sagte der Arzt und zog sich den Mantel an. »Der Tod ist vor zirka drei Stunden eingetreten. Den Totenschein hab’ ich aufs Telefonbuch gelegt – auf das Tischchen dort. Da hab’ ich Ihnen auch die Nummer des Beerdigungsinstituts notiert. Die Polizei verständige ich selber. Einwandfrei Selbstmord. Ich meine, man wird Sie in Ruhe lassen.«
    »Elsa!« Er kniete vor dem Bett und streichelte die kalte, weiße Stirn. »Verzeih mir, Elsa! Mein Gott, was war ich doch für ein Kretin! Die Seele zu verkaufen! Wofür! Um ein Computer zu werden und diesen Dummkopf Levi fertigzumachen…« Ein Bratapfel zu spät aus der Röhre genommen. Siegesfreude, das Langrensche Theorem, Tensoren, Operatoren, Formeln, Formeln, Formeln… Diesen Dummkopf…
    Clarence setzte sich aufs Bett und nahm vom Tischchen ein weißes Blatt.
Um zwölf klingelte das Telefon.
Clarence hob ab.
»Ja, bitte?«
Er saß immer noch auf dem Bett, am Telefontischchen. »Hallo, Clarence! Hier Leroi. Wie haben Sie die Nacht verbracht?«
»Die Nacht verbracht?« echote Clarence geistesabwesend und drehte in den Händen den Totenschein, dessen Rückseite über und über mit mathematischen Symbolen beschrieben war. »Ausgezeichnet hab’ ich die Nacht verbracht.«
»Und das

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