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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Haut, stößt durch die Schädeldecke. Weiter, immer weiter, ins Allerheiligste, in das größte Wunderwerk der Natur, Gehirn genannt.
    Da ist sie – die geheimnisvolle graue Masse: Spiegel der Welt, Behältnis von Freude und Leid, Hoffnung und Verzweiflung, Aufschwung und Niedergang, von genialen Erleuchtungen und Irrtümern.
    Der im Sessel liegende Mann blickt zum Fenster. Das spiegelnde Glas reflektiert den Bildschirm mit der gigantischen Abbildung seines Gehirns. Er sieht die leuchtenden Bahnen der mikroskopischen Elektroden und Lerois Hände auf dem Schaltpult. Die ruhigen, sicheren Hände eines Wissenschaftlers. Weiter, weiter! befehlen diese Hände, noch fünf Millimeter. Vorsicht – ein Gefäß, man sollte es umgehen!
    Clarence merkt, wie ihm ein Bein einschläft. Er bewegt sich, will die Stellung ändern.
»Ruhig, Clarence!« Lerois Stimme klingt gedämpft. »Halten Sie möglichst noch ein paar Minuten still. Ich hoffe, Sie empfinden nichts Unangenehmes?«
»Nein.« Wie soll er etwas empfinden, er weiß, sie ist völlig unempfindlich, diese graue Masse, der Analysator aller Arten von Schmerz.
»Gleich geht’s los«, sagte Leroi. »Legen Sie sich möglichst bequem hin, Clarence!«
Gedächtnisinversion. Um sie zu realisieren, muß die Maschine alle Winkel des menschlichen Gehirns durchlöchern, die Erinnerungen entwirren und zu einer endlosen Kette aufreihen, das Unterbewußte durchdenken und entscheiden, was für immer entfernt werden kann und was bleiben muß. Entrümpelung des Lagers.
Am Schaltpult leuchtete ein grünes Lämpchen auf. Der Strom fließt in die Hirnrinde.
Verwirrt steht der kleine Junge vor einem zerschlagenen Marmeladenglas. Ein dicker brauner Brei zerläuft auf dem Teppich…
Stopp! Sogleich wird der Empfindungskomplex in seine Bestandteile zerlegt und mit dem Programm verglichen. Was haben wir denn da? Angst, Ratlosigkeit, die erste Vorstellung von der Vergänglichkeit der Welt. Entfernen. Kaum hörbar klickt ein Relais. Ein Stromimpuls wird ins Gehirn entsandt, und die nervliche Erregung in diesem Abschnitt erlischt. Das Gedächtnis gewinnt Platz für wichtigere Dinge.
Eine Horde Jungs stürzt auf die Straße. Getuschel. Unter ihnen – ein riesiger Lümmel mit rotem Haarwust und abstehenden Ohren. Aber ja keine Angst zeigen! Und wenn’s noch so schwer fällt. Die Beine sind wie aus Watte. Speiübel wird einem, man möchte abhauen. Sie sind schon fast ‘ran. Drohendes Schweigen, eine Visage mit gebleckten Zähnen, abstehende Ohren. Noch zwei Schritte. Da hebt der Riese die Faust …
Löschen! Klick, klick, klick.
Ein Flußufer, auf dem Wasser – wippende Angelposen. Ein schwarzer Schatten. Ein Fuß im geflickten Stiefel. Weggeworfene Angeln, die mit der Strömung davontreiben. Roter Nebel vor den Augen. Ein Faustschlag in die verhaßte Fresse, noch einer und noch einer. Der besiegte, winselnde Feind, der sich das Blut übers Gesicht verschmiert …
Millisekunden für die Analyse. Lassen! Siegesfreude, Glauben an die eigene Kraft braucht ein Wissenschaftler genausogut wie ein Boxer im Ring.
Feuerschein auf Tannenwipfeln. Von Jugend und Wein erhitzte Gesichter. Funkengarben stieben hoch, wenn Äste ins Feuer geworfen werden. Knisternde Flammen und ein Lied: »Zeig mir den Stern der Liebe…« Elsas Gesicht. »Gehen wir, Clarence. Ich sehne mich nach Stille.« Trockenes Laub raschelt unter den Füßen. Ein weißes Kleid vor einem Baumstamm. »Wollen Sie mich nicht küssen, Clarence?« Der herbe Moosduft im Morgendämmer. Das Frühstück im kleinen Vorstadtrestaurant. Heiße Milch und knusprige – Brötchen. »Wir bleiben für immer zusammen, nicht wahr, Liebling?«
Die Lämpchen auf dem Pult flammen auf und erlöschen. Die Liebe – gut! Beschwingt die Phantasie. Das übrige – entfernen! Klimbim, der zuviel Nervenverbindungen belegt. Klick, klick. Alles wird auf die Ausmaße eines Fotos im Familienalbum reduziert: Ein weißes Kleid vor einem Baumstamm. »Wollen Sie mich nicht küssen, Clarence?«
Der unsichtbare Strahl rast durch die Zellen des elektronischen Wandlers, schnüffelt in allen Verstecken der menschlichen Seele.
Was ist da noch? Strom ins zweiunddreißigste Elektrodenpaar! Lassen, löschen, lassen, löschen, löschen, klick, klick, klick.
Die erste Vorlesung. Der schwarze Anzug, von Elsa sorgfältig gebügelt. Leise Besorgnis in den blauen Augen. »Toi, toi, toi, mein Schatz!« Das gestufte Halbrund des Hörsaals. Die aufmerksamen, belustigten Gesichter der Studenten.

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