Die Rekonstruktion des Menschen
heißen, diese, diese…« – verdammt! Ihm ist die Bezeichnung entfallen – »diese Pflanzen?«
»Blumen – wollen Sie sagen«, berichtigt sie ihn. »Es sind gewöhnliche rote Rosen. Haben Sie sie wirklich noch nie gesehen?«
»Nein, zufällig nicht. Danke. Aber jetzt merke ich es mir: rote Rosen.«
Er steht auf, streicht behutsam mit den Fingern über die Blütenblättchen und geht weiter.
Ein, zwei, drei. Links, links.
Das Mädchen blickt ihm verwundert nach. Ein sonderbarer Kauz, trotzdem – schade. Er hätte ruhig etwas netter sein können.
Rosen, rote Rosen, wiederholt er in Gedanken…
Clarence öffnet die Hörsaaltür. Das Seminar hat schon begonnen. Levi, einem gestrengen Mops ähnlich, steht an der Tafel, die mit Gleichungen vollgekritzelt ist. Er dreht sich um und winkt Clarence zu, die Kreide in der Hand. Alle blicken auf Clarence. In der Tür drängeln sich Studenten. Natürlich sind sie nicht wegen Levi hier. Der Held des Tages ist Clarence – ein Vertreter der Kaste der Unsterblichen.
»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung«, sagt er und setzt sich auf seinen Platz. »Bitte, fahren Sie fort.«
Rasch überfliegt er die Tafel. Anscheinend versucht der Alte, das Langrensche Theorem zu beweisen. Amüsant.
Levi tritt an die andere Tafel.
Clarence spürt die vielen Blicke nicht. Er rechnet etwas im Kopf nach. Er ist gespannt wie ein Rennpferd vor dem Start.
Aha, ich hab’s! Aber ruhig Blut, noch mal überprüfen. So, ausgezeichnet.
»Schluß damit!«
Levi wendet sich erstaunt um.
»Sagten Sie etwas, Clarence?«
Um Clarence Mund spielt ein blendendes, unerbittliches Lächeln.
»Ich sagte: Schluß damit! Im zweiten Glied ist eine versteckte Unbestimmtheit. Bei der Behandlung mit partiellen Ableitungen verwandelt sich Ihre Gleichung in eine Identität.« Er tritt an die Tafel, wischt achtlos alles weg, was Levi entwickelt hat, schreibt ein paar Zeilen, hin und unterstreicht mit Schwung das Resultat.
Levis Gesicht wird zu einem Bratapfel, den man zu spät aus der Röhre genommen hat. Eine Weile starrt er an die Tafel.
»Danke, Clarence… Ich überlege mir, was da zu tun ist.«
Da holt Clarence zum entscheidenden Schlag aus. Im Saal – prickelnde Style.
»Am besten täten Sie daran, die Finger von einer Arbeit zu lassen, der Sie nicht gewachsen sind.«
Knockout.
Wieder marschiert er die Straße entlang. Eins, zwei, drei; links, links; einatmen, Pause, ausatmen, Pause. Der besiegte, winselnde Feind, der sich das Blut übers Gesicht verschmiert. Ein Bratapfel, zu spät aus der Röhre genommen. Siegesfreude, Glauben an die eigene Kraft braucht ein Wissenschaftler genausogut wie ein Boxer im Ring.
Eins, zwei, drei; einatmen, Pause, ausatmen, Pause; eins, zwei, drei, links, links.
5
»Olaf!«
In der Tür – die strahlende, bezaubernde Elsa. Wie jung und schön sie ist – Aphrodite, aus dem Regenerationsschaum geboren.
Ein weißes Kleid vor einem Baumstamm. »Wollen Sie mich nicht küssen, Clarence?«
»Servus Liebling!« Das ist ein Kuß, wie ihn Eheleute am Tag ihrer brillantenen Hochzeit tauschen.
»Na, laß dich mal anschauen. Großartig siehst du aus. Jetzt muß ich wohl eine Leibgarde dingen, die dich vor den Studentinnen schützt.«
»Unsinn! Bei so einer Frau…«
»Laß, du verwühlst mir die Frisur.«
Er wandert durch die Zimmer, sieht sich die Bücher im Schrank an, die Nippsachen auf Elsas Tischchen, betrachtet interessiert die Möbel, die Wände. All das ist ihm vertraut und fremd zugleich. Als hätte er es im Traum gesehen.
»Dein neuer Schwarm?« fragt er beim Anblick eines Fotos, auf dem ein junger Mann im Raumanzug an einer Raketengangway zu sehen ist.
Elsa starrt ihn entsetzt an.
»Olaf, was redest du da!«
Clarence zuckt die Achseln.
»Ich gehöre nicht zu den Männern, die auf die Bekannten ihrer Frauen eifersüchtig sind, aber du mußt doch zugeben: Die Masche, Konterfeis von Verehrern überm Bett aufzuhängen, ist mehr als komisch. Was guckst du mich so entgeistert an?«
»Weil… weil das Henry ist… unser Sohn. Mein Gott! Erinnerst du dich denn an nichts?«
»Ich erinnere mich sehr gut an alles, aber Kinder hatten wir keine. Wenn du trotzdem auf diesen Wandschmuck nicht verzichten willst, mußt du dir schon was Gewitzteres einfallen lassen.«
»Großer Gott!«
»Nicht doch, Liebling.« Clarence beugt sich zu seiner schluchzenden Frau. »Meinetwegen, soll es hängenbleiben, wenn du Spaß dran hast.«
»Geh weg! Bitte, Olaf, geh weg! Laß mich allein, ich flehe dich
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