Die Rekonstruktion des Menschen
Am Anfang – eine belegte, etwas brüchige Stimme. Einführung in die Funktionstheorie. Der offene Mund eines Studiosus in der ersten Reihe. Allmählich legt sich der Lärm. Kreidegeklopf an der Tafel. Die freudige Gewißheit, daß die Vorlesung glatt verläuft. Beifall, Glückwünsche der Kollegen. Wie lange ist das her! Siebzig Jahre! Am zwanzigsten September …
Klick, klick. Es bleiben nur das Datum und ein Konspekt der Vorlesung, ganz kurz.
Weiter, weiter.
»Guck mal, unser Sohn. Er sieht dir ähnlich, nicht?« Ein Rosenstrauß am Kopfende. Die Rosen sind aus dem Laden an der Brücke. Die blonde Verkäuferin hat sie eigens für ihn ausgesucht. »Frauen lieben schöne Blumen, ich bin überzeugt, sie werden ihr gefallen.«
Klick, klick. Fort mit den unnützen Erinnerungen, die das Gedächtnis belasten. Das Gehirn eines Mathematikers muß von sentimentalem Kram frei sein.
Elsas schriller, tierischer Schrei. Beileidstelegramme, Telefonanrufe, Scharen von Reporten auf der Treppe. »Die ganze Welt rühmt die Heldentat Ihres Sohnes.« In den Zeitungen auf der ersten Seite ein schwarzumrandetes Foto: ein junger Mann im Raumanzug an einer Raketengangway. Die stumme Menge in der Kirche. Die hagere Figur des Geistlichen. »Ewiges Gedenken den Bezwingern des Kosmos…«
Die Lämpchen auf dem Pult flammen auf und erlöschen. Durch die Verzögerungsleitungen des Speichers eilen die Entladungen, bis zum äußersten ausgelastet sind die Blöcke der Logikkreise. Immer wieder wird das Resultat mit dem Programm verglichen und die logische Analyse wiederholt.
»Nanu, was tut sich denn da?« Leroi läßt kein Auge vom Pult. Offenbar kann sich die Maschine nicht entscheiden.
»Endlich, Gott sei Dank!« Erleichtert atmet Leroi auf, als er das gewohnte Klicken des Relais vernimmt. »Creps, überprüfen Sie morgen anhand der Bandaufzeichnung, was da mit dem Programm nicht stimmt.«
Klick, klick, klick.
»Ewiges Gedenken den Bezwingern des Kosmos.« Klick. Noch eine Gedächtniszelle frei.
Millionen Analysen pro Minute. Ereignisse und Daten, Gesichter von Bekannten, gelesene Bücher, Bruchstücke von Filmen, Neigungen und Gewohnheiten, physikalische Konstanten, Tensoren, Operatoren, Formeln, Formeln, Formeln. All das ordnen und sortieren, Unnötiges streichen.
Klick, klick. Ein Mathematikergehirn muß über ein immenses Berufsgedächtnis verfügen. Aufnahmefähigkeit für mindestens fünfzig Jahre muß garantiert werden. Wer weiß, was noch alles kommt? Hinweg mit dem Ballast! Klick, klick.
Die Kurven auf den Oszillographenschirmen tanzen. Leroi ist nicht restlos befriedigt. Offenbar muß Schluß gemacht werden, das Gehirn ist müde.
»Genug!« weist er Creps an. »Rufen Sie die Pfleger, sie sollen ihn auf die Station schaffen.«
Creps drückt auf den Klingelknopf. Während sich die Pfleger um den fühllosen Körper mühen, schaltet er die Anlage aus.
»Schluß für heute?«
»Ja«, erwidert Leroi. »Ich bin groggy wie der Herrgott nach dem sechsten Schöpfungstag. Ein kleiner Bummel war mir jetzt recht. Los, Creps, gehen wir in irgendein Kabarett. Nach dieser Schinderei können auch Sie eine Aufmunterung vertragen.«
4
Eins, zwei, drei. Links, links. Eins, zwei, drei. Zu gehen ist doch eine Lust! Einatmen, Pause, ausatmen, Pause. Puck, puck, puck, linker Herzvorhof, rechte Herzkammer, rechter Herzvorhof, linke Herzkammer. Eins, zwei, drei. Links, links.
Leicht und beschwingt schreitet Clarence die Straße entlang. Er blickt zur Uhr. Jetzt muß er verabredungsgemäß in die Uni. Auf einem Sprung bloß, zu Levis Seminar. Dann geht’s heim, zu Elsa. Einatmen, Pause, ausatmen, Pause. Welch eine Vielfalt von Düften, Schattierungen, Formen. Das erneuerte Gedächtnis resorbiert begierig die Umwelt. Heißes Blut strömt durch die Arterien, verrieselt ins Labyrinth der Gefäße und kehrt auf seinen Kreiswegen zurück. Puck, puck, puck. Kleiner Kreis, großer Kreis, rechter Vorhof, linke Herzkammer, linker Vorhof, rechte Herzkammer, puck, puck, puck.
Einatmen, Pause, ausatmen, Pause, Halt! Clarence bleibt überwältigt stehen. Auf grünem Laubgrund – rote Blütenblättchen, die unwahrscheinlich duften. Er sinkt in die Knie und beschnuppert wie ein Tier den Strauch.
In den Augen des vorübergehenden Mädchens leuchten Spott und unwillkürliches Entzücken. Er ist sehr schön, der Mann, der vor den Blumen kniet.
»Haben Sie etwas verloren?« fragt sie lächelnd.
»Nein, ich möchte mir nur den Duft einprägen. Wissen Sie, wie sie
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