Die Revolte des Koerpers
lieblos von zwei braven Kindern gezeugt, die ihren Eltern Gehorsam schuldeten und ein Kind zur Welt brachten, das sie gar nicht wollten, und wenn doch, dann einen Jungen für die Großväter. Sie bekamen indes eine Tochter, die jahrzehntelang versuchte, all ihre Fähigkeiten einzusetzen, um sie schließlich glücklich zu machen, eigentlich ein hoffnungsloses Unterfangen. Aber als Kind, das überleben wollte, hatte ich keine Wahl, als mich anzustrengen. Von Anfang an erhielt ich den impliziten Auftrag, meinen Eltern die Anerkennung, Aufmerksamkeit und Liebe zu geben, die ihnen die Großeltern vorenthalten hatten. Doch um das immer wieder zu versuchen, mußte ich meine Wahrheit aufgeben, die Wahrheit meiner eigenen Gefühle. Trotz dieser Bemühungen und Anstrengungen begleiteten mich lange tiefste Schuldgefühle, denn mein Auftrag war ja unerfüllbar. Außerdem blieb ich auch mir etwas schuldig: meine Wahrheit. (Das fing ich an zu ahnen, als ich Das Drama des begabten Kindes schrieb, in dem so viele Leser ihr eigenes Schicksal erkannten.) Gleichwohl versuchte ich noch als erwachsene Frau jahrzehntelang, den Auftrag meiner Eltern zu erfüllen, mit meinen Partnern, mit Freunden, mit meinen Kindern, weil das Schuldgefühl mich fast umbrachte, wenn ich mich den Anforderungen, andere aus ihrer Verwirrung zu retten und ihnen zu helfen, zu entziehen versuchte. Das ist mir erst sehr spät im Leben gelungen.
Dankbarkeit und Schuldgefühle abzulegen war ein ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zur Auflösung meiner Abhängigkeit von den verinnerlichten Eltern. Doch es gab noch andere Schritte, die ich machen mußte: vor allem den Schritt zur Aufgabe der Erwartungen, der Hoffnung, daß das, was ich bei den Eltern vermißte, der offene Austausch von Gefühlen, die freie Kommunikation, doch noch eines Tages möglich sein würde. Es wurde möglich, mit anderen Menschen, aber erst, als ich die ganze Wahrheit über meine Kindheit erfaßt hatte und begriff, wie undenkbar es mir war, mit meinen Eltern offen zu kommunizieren, und wie sehr ich darunter gelitten hatte als Kind. Erst dann fand ich Menschen, die mich verstehen konnten und bei denen ich mich offen und frei ausdrücken durfte. Meine Eltern sind schon lange tot, aber ich kannmir vorstellen, daß den Menschen, deren Eltern noch leben, dieser Weg deutlich schwerer fällt. Die aus der Kindheit stammenden Erwartungen können so stark sein, daß der einzelne alles aufgibt, was ihm guttäte, um endlich so zu sein, wie seine Eltern ihn wünschten, um ja nicht die Illusion der Liebe zu verlieren.
Karl zum Beispiel schildert seine Verwirrung folgendermaßen:
»Ich liebe meine Mutter, aber sie glaubt es mir nicht, weil sie mich mit meinem Vater verwechselt, der sie quälte. Aber ich bin nicht wie mein Vater. Sie macht mich wütend, aber ich will ihr die Wut nicht zeigen, weil sie dann den Beweis hätte, ich wäre wie mein Vater. Doch das stimmt nicht. Dann muß ich meine Wut zurückhalten, um ihr nicht recht zu geben, und ich spüre dann keine Liebe für sie, sondern Haß. Ich will diesen Haß nicht haben, will von ihr so gesehen und geliebt werden, wie ich bin, und nicht gehaßt wie mein Vater. Aber wie mache ich es denn richtig?«
Die Antwort ist, daß man es nie richtig machen kann, wenn man sich nach dem anderen richtet. Man kann nur der sein, der man ist, und man kann die Eltern auch nicht zur Liebe zwingen. Es gibt Eltern, die nur die Maske ihres Kindes lieben können, und sobald das Kind die Maske ablegt, sagen sie häufig, wie ich es oben erwähnte: »Ich möchte nur, daß du so bleibst, wie du vorher warst.« Die Illusion, die Liebe der Eltern doch noch zu »verdienen«, läßt sich nur durch Verleugnung dessen, was geschah, aufrechterhalten. Sie fällt zusammen, wenn man sich entschlossen hat, die Wahrheit mit all ihren Verästelungen anzuschauen, und die Selbsttäuschung, die manmit Hilfe des Alkohols, der Drogen und Medikamente kultiviert, aufgibt. Anna, fünfunddreißig, Mutter von zwei Kindern, fragte mich: »Was kann ich meiner Mutter erwidern, die mir immer wieder sagt: ›Ich möchte doch gar nichts anderes, als daß du mir deine Liebe zeigst. Früher hast du es doch auch getan, und jetzt bist du so anders.‹ Ich möchte ihr antworten: ›Ja, weil ich jetzt spüre, daß ich nicht immer aufrichtig zu dir war. Ich möchte ehrlich mit dir umgehen.‹« »Und warum kann man das nicht so sagen?« fragte ich. »Es ist wahr«, antwortete Anna, »ich habe doch das
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