Die Revolte des Koerpers
mit Hilfe von Gewalt Demokratie gelehrt werden kann. Daraus ziehe ich den Schluß, daß es so viele Menschen auf der Welt nicht gibt, die diese Form von Erziehung nicht erfahren haben. Für all diese Menschen gilt, daß ihre Auflehnung gegen Grausamkeit sehr früh unterdrückt wurde und daß sie nur in der inneren Unaufrichtigkeit groß werden durften. Das läßt sich auf Schritt und Tritt beobachten. Sagt jemand in einem Gespräch: »Ich liebe meine Eltern nicht, weil sie mich ständig gedemütigt haben«, bekommt er unweigerlich von allen Seiten die üblichen Ratschläge, er müsse seine Haltung verändern, wenn er erwachsen werden wolle, er dürfe keinen Haß in sich herumtragen, wenn er gesund werden wolle, er könne sich vom Haß nur befreien, wenn er seinen Eltern vergeben habe. Es gäbe keine idealen Eltern, alle Eltern würden gelegentlich Fehler machen, diese müsse man tolerieren, und das könne der Erwachsene lernen. Die Ratschläge klingen nur deshalb so einleuchtend, weil wir sie seit langem kennen und womöglich gar für vernünftig gehalten haben. Das sind sie aber nicht. Viele beruhen auf falschen Voraussetzungen, denn es ist nicht wahr, daß die Vergebung vom Haß befreit. Sie hilft ihn nur zuzudecken, und damit (im Unbewußten) noch zu verstärken. Es ist nicht wahr, daß unsere Toleranz mit dem Alter wächst. Ganz im Gegenteil: Das Kind toleriert die Absurditäten seiner Eltern, weil es sie für normal hält und sich nicht wehren darf. Erst der Erwachsene leidet unter der Unfreiheit und dem Zwang, doch er fühlt dieses Leiden in Beziehungen mit den Ersatzpersonen, den eigenen Kindern und Partnern. Seine kindliche unbewußte Angst vor den Eltern hält ihn davor zurück, die Wahrheit zu erkennen. Es ist nicht wahr, daß der Haß mich krank macht, der verdrängte, abgespaltene Haß kann mich krank machen, nicht aber das bewußt erlebte und ausgedrückte Gefühl (vgl. AM 1998, letztes Kapitel). Als Erwachsene empfinde ich den Haß nur, wenn ich in einer Situation verbleibe, in der ich meinen Gefühlen nicht freien Ausdruck verleihen kann. In dieser Abhängigkeit fange ich an zu hassen. Sobald ich sie auflöse (und als Erwachsene kann ich das in den meisten Fällen, außer als Gefangene in einem totalitären Regime), sobald ich michaus der sklavischen Abhängigkeit befreie, fühle ich keinen Haß mehr (vgl. Kap. II.3). Aber wenn er da ist, nützt es nichts, sich den Haß zu verbieten, wie dies alle Religionen vorschreiben. Man muß ihn verstehen, um das Verhalten wählen zu können, das den Menschen von der haßerzeugenden Abhängigkeit befreit.
Natürlich sind Menschen, die von ihren echten Gefühlen von klein auf getrennt wurden, von Institutionen wie die Kirche abhängig und lassen sich diktieren, wieweit sie sich selbst spüren dürfen. In den meisten Fällen scheint es soviel wie nichts. Doch ich kann mir nicht vorstellen, daß es immer so bleiben wird. Irgendwo, irgendwann wird es doch zu einer Rebellion kommen, und der Prozeß der gegenseitigen Verdummung wird zum Stillstand gebracht werden, wenn einzelne Menschen den Mut finden, trotz der begreiflichen Ängste ihre Wahrheit zu sagen, zu fühlen und bekannt zu machen und auf dieser Basis mit den anderen zu kommunizieren.
Wenn man gewillt ist, zu wissen, wieviel Energien Kinder verbrauchen müssen, um Grausamkeit und oft: extremen Sadismus zu überleben, wird man unversehens zum Optimisten. Denn man kann sich dann leicht vorstellen, daß unsere Welt eine bessere sein könnte, wenn diese Kinder (wie Rimbaud, Schiller, Dostojewski, Nietzsche) ihre beinahe grenzenlosen Energien für andere, produktivere Zwecke einsetzen könnten als nur für den Kampf um ihre Existenz.
II.3 Der Körper als Hüter der Wahrheit
Elisabeth, eine Frau von achtundzwanzig Jahren, schreibt:
»Meine Mutter hat mich in meiner Kindheit schwer mißhandelt. Sobald ihr etwas nicht paßte, hat sie mich mit den Fäusten auf den Kopf gehauen, ihn gegen die Wand geschlagen, mich an den Haaren gezogen. Ich hatte keine Möglichkeit, das zu verhindern, weil ich nie die wirklichen Ursachen dieser Ausbrüche verstehen konnte, um sie nächstes Mal zu vermeiden. So habe ich mir die größte Mühe gegeben, die leisesten Stimmungsschwingungen in meiner Mutter schon im Anfangsstadium zu erkennen, in der Hoffnung, ihren Ausbruch durch Anpassung zu vermeiden. Das gelang mir manchmal, aber meistens nicht. Als ich vor einigen Jahren unter Depressionen litt, suchte ich eine
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