Die Revolution der Ameisen
versuchten sich an einem musikalischen Dialog mit ihr.
Der Saal geriet völlig aus dem Häuschen.
Alle sogen begierig den Sandelholz-und Harzgeruch ein, den Paul erzeugte. Auf den Gängen und vor der Bühne wurde getanzt. Es war einfach unmöglich, bei den frenetischen Rhythmen der Grille ruhig sitzen zu bleiben.
Die Mädchen vom Aikido-Club trugen diesmal andere T-Shirts, eigenhändig mit Filzstiften beschriftet: REVOLUTION
DER AMEISEN. Sie hatten die Gruppe zu ihren Idolen erkoren und jubelten nun am lautesten.
Ihr erster öffentlicher Auftritt strengte die Grille sehr an. In der Sonne konnte sie lange zirpen, nicht aber unter diesen grellen Scheinwerfern, die ihre Flügel austrockneten. Nach einem letzten tiefen C verstummte sie ermattet.
So als hätten sie gerade ein ganz normales Gitarrensolo gehört, stimmte Julie die nächste Strophe an:
»Nichts Neues unter der Sonne.
Wir sehen stets dieselbe Welt auf dieselbe Weise.
Es gibt keine Erfinder mehr.
Es gibt keine Visionäre mehr …«
Zu ihrer großen Überraschung riefen die Zuschauer, die beim ersten Konzert gewesen waren, sofort wie aus einem Munde:
» Wir sind die neuen Visionäre!«
Mit einer solchen Reaktion hatte Julie nicht gerechnet. Das Gemeinschaftsgefühl, das neulich so jäh zerstört worden war, stellte sich sofort wieder ein, so als wollten die Menschen an ihre damalige Hochstimmung anknüpfen. Begeistert rief Julie in die Menge: »Wer sind wir?«
»Wir sind die neuen Erfinder!«
Und alle stimmten das Lied ›Die Revolution der Ameisen‹, das zur Hymne geworden war, von neuem an. Obwohl sie es nur einmal gehört hatten, kannten sie den Text schon auswendig. Julie konnte es einfach nicht fassen. Ji-woong gab ihr ein Zeichen, daß sie die Zügel in der Hand behalten müsse, und sie hob ihren Arm mit geballter Faust. »Wollt ihr mit der alten Welt Schluß machen?«
Ihr war durchaus bewußt, daß es von nun an kein Zurück mehr gab. Überall sprangen Zuschauer von den Klappstühlen auf und ballten ebenfalls die Faust.
»Wollt ihr die Revolution – hier und jetzt?«
Ein gewaltiger Adrenalinstoß, bewirkt durch Angst, Aufregung, Neugier und Lust, überflutete ihr Gehirn. Nur jetzt nicht nachdenken. Ihr Mund übernahm die Regie.
»Dann nichts wie los!«
Ungeheurer Jubel folgte ihren Worten. Alle waren jetzt auf den Beinen und schwenkten die Fäuste. Der Direktor des Kulturzentrums versuchte die Gemüter zu beruhigen. Er stürzte auf die Bühne und rief ins Mikrofon: »Nehmen Sie bitte wieder Platz! Es ist erst Viertel nach neun, und das Konzert hat kaum begonnen!« Die sechs Saalwärter konnten die Menge nicht bändigen. »Und was jetzt?« flüsterte Zoé ins Ohr Julies.
»Jetzt bauen wir unser Utopia!« erwiderte Julie mit kriegerischer Miene und warf schwungvoll ihre schwarze Haarmähne zurück.
97. ENZYKLOPÄDIE
Utopie von Thomas More: Das Wort ›Utopie‹ wurde im Jahre 1516 von dem Engländer Thomas More erfunden. Es setzt sich aus topos – griechisch: Ort – und dem negativen Präfix u zusammen und bedeutet folglich ›Der Ort, den es nicht gibt‹, oder ›Nicht-Land‹. (Anderen zufolge lautet das Präfix eu, was gut heißt; in diesem Fall würde ›Eutopie‹ mit ›der gute Ort‹ zu übersetzen sein.)
Thomas More war Diplomat und englischer Lordkanzler, ein Humanist und Freund von Erasmus. In seinem Buch namens Utopia beschreibt er eine Insel, auf der eine idyllische Gemeinschaft ohne Steuern, ohne Not und Diebstahl lebt. Eine ›utopische‹ Gesellschaft mußte für More in erster Linie eine
›freie‹ Gesellschaft sein.
Er beschreibt seine ideale Welt folgendermaßen: 10000\1 Personen leben auf der Insel. Jeweils fünfzig Familien bilden eine Gruppe, die ihren Leiter, den ›Syphogranten‹, wählt. Die Syphogranten bilden einen Staatsrat und stellen vier Kandidaten für das Amt des Staatsoberhaupts auf. Es wird auf Lebenszeit gewählt, kann aber abgesetzt werden, wenn es sich zum Tyrannen entwickelt. Für Kriege werden Söldner eingesetzt, wobei man hofft, daß sie während der Schlacht zusammen mit ihren Feinden ums Leben kommen. Das Werkzeug soll sich beim Gebrauch selbst zerstören. Dadurch entfällt das Risiko eines Militärputsches.
Auf Utopia gibt es kein Geld, jeder nimmt sich auf dem Markt, was er braucht. Alle Häuser sind identisch, es gibt keine Schlösser an den Türen, und jeder ist gezwungen, nach zehn Jahren umzuziehen, um nicht in alten Gewohnheiten zu erstarren. Müßiggang
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