Die Revolution der Ameisen
eines elektrischen Schalters die Seiten um. Der Saal applaudierte.
»In diesem Buch stand, man müsse die Welt verändern, man müsse eine Revolution machen … eine ›Revolution der Kleinsten‹ eine ›Revolution der Ameisen‹.«
Die große Polystyrolameise wurde angestrahlt. Sie bewegte ihre sechs Beine und wackelte mit dem Kopf. Die Lampen, die ihr als Augen dienten, leuchteten auf und ließen sie fast lebendig erscheinen.
»Diese Revolution soll neuartig sein. Gewaltlos. Ohne Diktatoren und ohne Märtyrer. Ein sanfter Übergang von einem völlig verrotteten System zu einer neuen Gesellschaft, in der die Menschen kommunikationsfähig sind und gemeinsam neue Ideen in die Tat umsetzen. Das Buch enthält Texte, die einem helfen sollen, eine solche Revolution zu verwirklichen.«
Sie trat auf der immer noch dunklen Bühnenmitte einen Schritt vor. »Der erste Text heißt ›Guten Tag‹.«
Das Orchester stimmte die Melodie an, und Julie sang:
»Guten Tag, unbekanntes Publikum.
Unsere Musik ist eine Waffe, um die Welt zu verändern. Nein, lächeln Sie nicht. Es ist möglich.
Und Sie selbst können es tun.«
Nun endlich fiel blendend weißes Licht auf das Mädchen im Schmetterlingsgewand. Julie hob langsam die Arme, und die weiten Ärmel entfalteten sich wie Flügel.
Paul erzeugte einen Luftzug, der diese Flügel und die langen Haare flattern ließ, und gleichzeitig verströmte sein
›olfaktorischer Synthesizer‹ einen betörenden Jasminduft.
Bereits am Ende dieses ersten Liedes war das Publikum gebannt. Als nächstes versuchte sich die Gruppe an einem
›Egregor‹. Julie sang einen Ton, den die anderen aufgriffen. Sie bildeten in der Bühnenmitte einen Kreis und hoben ihre Arme über die Köpfe empor, was in Verbindung mit den Insektenkostümen so aussah, als wären ihnen Fühler gewachsen.
Ihre Gesichter waren nach oben gewandt, damit ihre Stimmen sich über ihnen vereinigen konnten. Sie sangen lächelnd, mit geschlossenen Augen, und sie hatten zu acht wirklich nur noch eine einzige Stimme, die über ihnen schwebte wie ein großer Seidenteppich.
Im Saal herrschte atemlose Stille. Sogar jene, die keine Ahnung hatten, was ein ›Egregor‹ war, konnten sich der Faszination dieses vollkommenen Gleichklangs nicht entziehen.
Wie einst bei ihrem Lehrer, so staunte Julie auch jetzt wieder, daß Kehlkopf und Stimmbänder zu solchen Leistungen imstande waren. Sie fühlte sich restlos glücklich.
Es folgten die neuen Lieder: ›Die Zukunft gehört den Schauspielern‹, ›Die Kunst der Fuge‹, ›Zensur‹ und
›Noosphäre‹.
Ji-woong hielt sich beim Rhythmus an wissenschaftliche Erkenntnisse. Bei mehr als 120 Schlägen pro Minute wirkte die Musik aufpeitschend, bei weniger hingegen beruhigend, und er setzte beides abwechselnd ein, um das Publikum stets aufs neue zu überraschen.
Sie hatten ein weiteres klassisches Stück ins Programm aufgenommen, Bachs Toccata, allerdings sehr modern interpretiert, als Hard Rock, wobei David sich an der elektrischen Harfe besonders hervortat.
Endlich stimmten sie die ›Revolution der Ameisen‹ an, und Paul verströmte dazu ein Aroma nach feuchter Erde, mit einem Hauch von Pfefferkraut, Lorbeer und Salbei.
Julie sang mit großer Überzeugungskraft, und nach der dritten Strophe war plötzlich ein neues Instrument zu hören, das höchst ungewöhnliche Töne hervorbrachte.
Ein dünner Lichtstrahl wurde auf die linke Ecke der Bühne gerichtet, wo auf einem roten Satinkissen eine Feldgrille thronte. Ein winziges Mikrofon war an ihren Flügeln befestigt, und ihr Schrillen hörte sich so an, als würde man mit einem Löffel über eine Käsereibe streichen.
Die Grille, die Narcisse mit einer winzigen Fliege geschmückt hatte, legte ein unglaubliches Tempo vor.
Schlagzeug und Baß, die ihr als Untermalung dienten, konnten kaum noch mit ihr Schritt halten. 150, 160, 170, 180 Schläge pro Minute – das war einfach nicht zu schaffen. Verstärkt durch modernste Elektronik, war diese ›Insektenmusik‹ so verblüffend neuartig, daß das Publikum zunächst wie versteinert dasaß. Doch gleich darauf kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr. David konnte zufrieden sein: seine Erfindung, die ›elektrische Feldgrille‹, war ein Riesenerfolg.
Damit die Zuschauer das Insekt besser sehen konnten, ließ Paul es mit Hilfe einer Videokamera und eines Projektors auf den Seiten des großen Buches erscheinen. Julie sang ein Duett mit der Grille, und alle Instrumente
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