Die Revolution der Ameisen
die der ›Langohren‹ von der Osterinsel.
Das alles war hochinteressant, und sie wollte sich Notizen machen. Am Ende des Buches gab es leere Seiten mit einer Aufforderung, die lautete: »Schreiben Sie hier Ihre eigenen Entdeckungen und Erfahrungen auf.« Edmond Wells hatte wirklich an alles gedacht. Sein Werk war interaktiv: zuerst Lesen, dann selbst schreiben. Bis jetzt hatte sie aus Respekt vor dem Buch nicht einmal die kleinste Anmerkung an den Rand gekritzelt, doch jetzt notierte sie kühn: »Beitrag von Julie Pinson. Wie führt man eine erfolgreiche Revolution durch?
Erste Erkenntnisse nach der Besetzung des Gymnasiums von Fontainebleau.
Revolutionsregel Nr. l: Rockkonzerte setzen genug Energie und Empathie frei, um revolutionsartige Massenbewegungen auszulösen.
Revolutionsregel Nr. 2: Eine Einzelperson kann eine Menge nicht bändigen. Eine Revolution muß deshalb von mindestens sieben oder acht Personen angeführt werden, allein schon, damit man Zeit zum Ausruhen und Nachdenken hat.
Revolutionsregel Nr. 3: Kommt es zur Schlacht, muß man sich in Gruppen zersplittern, deren Anführer mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel ständig miteinander Kontakt halten müssen.
Revolutionsregel Nr. 4: Eine gelungene Revolution ruft zwangsläufig Neider auf den Plan. Man muß unbedingt vermeiden, daß die Revolution ihren Initiatoren entgleitet. Selbst wenn man sich über die Ziele dieser Revolution noch nicht im klaren ist, muß man zumindest wissen, was diese Revolution nicht sein soll. Unsere Revolution ist nicht gewalttätig. Unsere Revolution ist nicht dogmatisch. Unsere Revolution gleicht keiner bisherigen.«
War sie dessen wirklich so sicher? Sie löschte den letzten Satz mit einem Korrigierstift. Wenn sie eine sympathische Revolution entdeckte, würde sie deren Ziele gern aufgreifen.
Aber hatte es in der Vergangenheit überhaupt ›sympathische‹
Revolutionen gegeben?
Sie blätterte wieder in der Enzyklopädie. Eine so eifrige Schülerin war sie noch nie gewesen. Ganze Passagen lernte sie auswendig, studierte die Revolte der Spartakisten, die Pariser Kommune, Zapatos Aufstand in Mexiko, die Französische Revolution von 1789, die Russische Revolution von 1917 …
Es war immer das gleiche: Alle Revolutionen begannen mit positiven Intentionen, alle hatten edle Motive, doch dann tauchte unweigerlich irgendein gerissener Kerl auf, der die allgemeine Verwirrung ausnutzte und eine Diktatur errichtete, während die Utopisten der ersten Stunde ums Leben kamen.
Che Guevara war ermordet worden, und Fidel Castro war an die Macht gelangt. Leo Trotzki war ermordet worden, und Joseph Stalin war an die Macht gekommen. Danton war ermordet worden, und Robespierre war aufgestiegen …
Julie sagte sich, daß es auf der Welt offenbar keine Moral gab, nicht einmal bei Revolutionen. Sie las noch einige Abschnitte und dachte, daß Gott wirklich großen Respekt vor den Menschen haben müsse, wenn er ihnen soviel Freiraum einräumte, daß sie sogar die schlimmsten Ungerechtigkeiten und Greuel begehen konnten, ohne daß er eingriff.
Ihre eigene Revolution war im Augenblick noch ein funkelnagelneuer Edelstein, und sie mußte ihn unbedingt vor Räubern schützen. Die Scharfmacher von heute waren zum Glück abgezogen, aber es konnten jederzeit neue auftauchen. Man mußte Härte demonstrieren, bevor man sich den Luxus von Güte erlauben konnte. Dazu war man verpflichtet, wenn man Chaos verhindern wollte. Erst wenn die Gemeinschaft Selbstdisziplin gelernt hatte, durfte man die Zügel lockern.
Zoé betrat das Klassenzimmer mit Bluejeans, einem blauen Hemd und einem blauen Pullover über dem Arm.
»Du kannst nicht ewig in deinem Schmetterlingskostüm herumlaufen.«
Julie bedankte sich und ging zu den Duschräumen. Ihre Enzyklopädie nahm sie mit, weil sie sich nicht einmal für kurze Zeit von dem Buch trennen wollte. Unter heißem Wasser wusch sie sich mit einer harten Seife, so als wollte sie ihre alte Haut abschrubben.
122. MITTE DER ERZÄHLUNG
Jetzt fühlte Julie Pinson sich sauber. Sie zog die blauen Sachen an, die Zoé ihr gebracht hatte. Zum erstenmal seit ewiger Zeit trug sie keine schwarzen Kleidungsstücke.
Sie wischte den Dampf vom Spiegel und fand zum erstenmal, daß sie gar nicht so übel aussah. Sie hatte schöne schwarze Haare, und ihre großen hellgrauen Augen kamen durch die blaue Kleidung viel besser zur Geltung.
Während sie sich so im Spiegel betrachtete, kam ihr eine Idee.
Sie schlug die
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