Die Revolution der Ameisen
würden, genau wie die Schwarzen, die Chinesen, Iren und Italiener.
Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht, denn die Indianer wollten partout nicht einsehen, was sie vom politischen und sozialen System der Amerikaner lernen könnten, das sie für unterentwickelt hielten.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
119. KUNST UND AUGEN
Gleich nach Sonnenaufgang machen sich die Ameisen auf den Weg. Sie setzen mit ihrem Kriegsschiff ans Ufer über und marschieren sodann in westliche Richtung.
Es sind nur etwa hundert, aber sie haben das Gefühl, gemeinsam Berge versetzen zu können. Prinzessin Nr. 103 ist sich bewußt, daß sie nach ihrem Kreuzzug von West nach Ost, bei dem sie das geheimnisvolle Land der Finger entdeckt hat, nun einen Kreuzzug in umgekehrter Richtung durchführt, mit dem Ziel, ihrem Volk jene mysteriöse Welt der Finger zu erklären und dadurch einen Beitrag zur Entwicklung der Ameisenzivilisation zu leisten.
Ein altes Ameisensprichwort drückt das treffend aus: Jeder, der in irgendeine Richtung aufbricht, kehrt in umgekehrter Richtung zurück.
Die Finger könnten dieses geflügelte Wort niemals verstehen, und die Prinzessin sagt sich, daß die Ameisen eben doch über ihre eigene ganz spezifische Kultur verfügen.
Die Gruppe durchquert übelriechende Ebenen, wo es Flügelfrüchte von Eschen und Ulmen regnet, und dichte Farnwälder, wo der Tau ihnen ins Gesicht tropft und die Fühler an den Schädel klebt.
Die kostbare Glut muß mit Blättern abgedeckt werden. Nur Prinz Nr. 24 beteiligt sich nicht an dieser Arbeit. Er hält nichts von der zunehmenden Glorifizierung der Welt der Finger.
Am späten Nachmittag wird es unerträglich heiß, und die Ameisen suchen in einem hohlen Baumstumpf Schutz vor der sengenden Sonne.
Die Feuerbegeisterten setzen ihre Experimente fort und verbrennen etwas, das die Luft in weitem Umkreis verpestet.
Ein Marienkäfer erkundigt sich, was denn da so bestialisch stinke, und bekommt zu hören, das sei ein Hartflügler. Weil auch er selbst ein Hartflügler ist, tritt der Marienkäfer hastig den Rückzug an und verspeist zum Trost einige Blattläuse, die in der Nähe weiden.
Nr. 7 will die eindrucksvolle Prozession der ›Revolution der Finger‹ künstlerisch darstellen. Sie läßt einige Insekten vor dem Feuer posieren und zeichnet die Umrisse ihrer Schatten auf einem Blatt nach. Ihr größtes Problem besteht darin, daß die Pigmente nicht richtig haften und sich ständig abzulösen drohen. Sie versucht, ihr Werk mit Speichel zu schützen, doch dadurch werden die Farben zu sehr verdünnt. Eine andere Lösung muß gefunden werden.
Im Namen der Kunst ermordet Nr. 7 eine Schnecke und probiert deren Schleim als Haftmittel aus. Das Resultat ist sehr zufriedenstellend. Der Schneckenschleim verdünnt die Farben nicht und wird beim Trocknen hart. Ein ausgezeichneter Lack! Prinzessin Nr. 103 begutachtet ihr Werk und bestätigt, ja, das sei Kunst. Jetzt fällt es ihr wieder ein: Kunst ist, Dinge herzustellen, die keinen praktischen Nutzen haben, aber an die Realität erinnern.
»Kunst ist der Versuch, die Natur nachzubilden«, verkündet Nr. 7 inspiriert.
Das erste Geheimnis der Finger haben die Ameisen gelöst.
Jetzt müssen sie noch ergründen, was ›Liebe‹ und ›Humor‹
sind.
Nr. 7 stürzt sich mit noch größerer Begeisterung in ihre Arbeit. Das ist das Faszinierende an der Kunst – je mehr Entdeckungen man macht, desto mehr neue hochinteressante Probleme tauchen auf. Wie soll sie beispielsweise Pflanzen und Landschaften malen?
Nr. 10 und Prinz Nr. 24 hören der Prinzessin zu, die wieder über die Finger spricht.
WIMPERN:
Die Finger haben etwas sehr Praktisches an den Augen, die sogenannten Wimpern.
Das sind dichte Haare, die Regenwasser von den Augen fernhalten.
Damit nicht genug, haben sie auch noch einen zweiten Vorteil: ihre Augenhöhlen liegen im Schädel etwas vertieft, so daß Wasser nicht direkt in die Augen fällt, sondern daran vorbeifließt.
Nr. 10 trägt alles gewissenhaft ins Gedächtnispheromon ein.
Doch Nr. 103 weiß noch mehr zu berichten.
TRÄNEN:
Die Augen der Finger verfügen über sogenannte Tränen. Das ist eine Art Speichel, der sie ölt und reinigt.
Dank ihrer Lider – das sind bewegliche Vorhänge, die sich alle fünf Sekunden schließen – sind ihre Augen ständig mit einem durchsichtigen Schmierfilm bedeckt, der sie vor Staub, Wind, Regen und Kälte schützt.
Auf diese Weise haben
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