Die Revolution der Ameisen
Polizei.
»Was machst du denn hier, Mama?« seufzte Julie.
»Ich habe dich gesucht. Du bist tagelang nicht nach Hause gekommen. Eigentlich wollte ich eine Vermißtenanzeige aufgeben, aber mir wurde gesagt, mit neunzehn wäre es dir erlaubt zu übernachten, wo immer du wolltest. An den ersten Abenden war ich wahnsinnig wütend auf dich und überlegte mir, wie ich dich nach deiner Rückkehr bestrafen könnte. Und dann erfuhr ich durch die Zeitungen und durchs Fernsehen, was du gemacht hast.«
Sie fuhr so schnell, daß Fußgänger zur Seite springen mußten. »Im ersten Moment dachte ich, du wärst noch viel schlimmer, als ich geglaubt hatte, aber dann habe ich lange nachgedacht, und allmählich habe ich begriffen, daß deine Aggressivität mir gegenüber nur die Reaktion auf Fehler war, die mir selbst unterlaufen sind. Ich hätte dich als eigenständigen Menschen und nicht als mein Eigentum behandeln sollen, dann wären wir bestimmt Freundinnen geworden, denn ich finde dich außerordentlich sympathisch, und mir gefällt sogar deine Revolte. Als Mutter habe ich offenbar versagt, aber ab jetzt werde ich mich bemühen, dir eine gute Freundin zu sein. Deshalb habe ich dich gesucht.«
Julie traute ihren Ohren nicht. »Aber wie hast du mich gefunden?«
»Vorhin hörte ich im Radio, du seist im Westviertel der Stadt auf der Flucht, und da dachte ich mir, das wäre eine gute Chance zur Wiedergutmachung. Ich bin losgefahren und habe gebetet, daß ich dich vor der Polizei finden möge. Und Gott hat meine Gebete erhört …«
Sie bekreuzigte sich rasch.
»Würdest du uns bei dir aufnehmen?« fragte Julie.
»Das geht leider nicht. Vor dem Kaufhaus hat sich bestimmt irgend jemand mein Autokennzeichen notiert, und es wird nicht lange dauern, bis die Polizei bei mir vor der Tür steht.
Nein, ihr müßt an einem Ort untertauchen, wo die Bullen euch nicht finden können.«
Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen und fuhren in westlicher Richtung. In der Ferne tauchten Bäume auf.
Der Wald.
»Dein Vater hat oft gesagt, wenn er eines Tages große Probleme hätte, würde er hierher gehen. ›Die Bäume beschützen jeden, der sie höflich darum bittet‹, hat er mir erklärt. Ich weiß nicht, ob du das inzwischen begriffen hast, Julie, aber dein Vater war wirklich ein großartiger Mensch.«
Sie hielt an und wollte Julie einen Fünfhundert-Francs- Schein geben, aber das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Im Wald werde ich kein Geld brauchen. Aber ganz bestimmt lasse ich dir eine Nachricht zukommen, sobald ich kann.«
Sie stiegen aus, und Julies Mutter hob grüßend die Hand.
»Das brauchst du nicht. Leb dein eigenes Leben. Zu wissen, daß du frei bist, wird mich über deine Abwesenheit hinwegtrösten.«
Julie wußte nicht, was sie sagen sollte. Es war viel leichter, sich scharfe Wortgefechte zu liefern, als auf Herzlichkeit und Verständnis die richtige Antwort zu finden. Statt dessen umarmte sie ihre Mutter, und einen Augenblick lang hielten sie sich fest.
»Auf Wiedersehen, meine kleine Julie!«
»Mama …«
»Was, mein Mädchen?«
»Danke!«
Die Frau blickte ihrer Tochter und dem jungen Mann nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden waren, bevor sie losfuhr.
David und Julie hatten den Eindruck, als würde der Wald sie willkommen heißen. Vielleicht gehörte es zu seinen globalen Strategien, Verfolgten Schutz zu bieten.
Auf schmalen Pfaden drangen sie tiefer ins Gestrüpp ein, und plötzlich bemerkte Julie eine fliegende Ameise, die über ihrem Kopf schwebte und ihn sodann zu umkreisen begann.
»David, ich glaube, diese Ameise interessiert sich für uns!«
»Glaubst du, daß sie zur gleichen Kategorie wie die in der Kanalisation gehört?«
»Das werden wir gleich sehen.«
Sie streckte die Hand mit breit gespreizten Fingern aus, damit die fliegende Ameise einen möglichst großen Landeplatz hatte.
Das Insekt setzte sanft auf und lief hin und her.
»Sie will schreiben, genau wie die andere!« Julie riß eine dunkle Beere ab und drückte sie auf ihrer Hand aus. Die Ameise tauchte sofort ihre Mandibel in diese Tinte.
Folgt mir.
»Entweder ist unserer Freundin von gestern abend die Flucht aus dem Krötenmaul gelungen, oder aber dies hier ist ihre Zwillingsschwester«, kommentierte David.
Sie betrachteten das Insekt, das auf sie zu warten schien.
»Was sollen wir machen?« fragte David.
»Wir haben doch nichts zu verlieren.«
Das Insekt flog vor ihnen her, in südwestliche Richtung. Sie kamen an allen
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