Die Revolution der Ameisen
ehemaliger Forschungsminister, eine schöne Eurasierin und ein kranker alter Mann zu den Angeklagten gehörten, verlieh dem Prozeß eine besonders reizvolle Note.
»Meine Damen und Herren – das hohe Gericht«, kündigte der Gerichtsdiener an.
Flankiert von seinen beiden Beisitzern und gefolgt vom Oberstaatsanwalt betrat der vorsitzende Richter den Saal. Der Gerichtsschreiber und die neun Geschworenen saßen schon auf ihren Plätzen: ein Lebensmittelhändler, ein Briefträger im Ruhestand, die Inhaberin eines Hundesalons, ein Chirurg, eine Métro-Kontrolleuse, ein Prospektverteiler, eine krankgeschrie-bene Lehrerin, ein Buchhalter und ein Matratzenhersteller.
»Die Staatsanwaltschaft gegen die Gruppe namens
›Revolution der Ameisen‹ sowie gegen die sogenannten ›Leute der Waldpyramide‹.«
Richter und Beisitzer nahmen an einem langen Ulmen-holztisch Platz, unter der allegorischen Statue der Justitia, einer jungen Frau in tief dekolletierter Toga mit verbundenen Augen und einer Waage in der Hand.
Dann wurden die Angeklagten vorgeführt, eskortiert von vier Polizisten. Es waren insgesamt achtundzwanzig – die sieben Initiatoren der ›Revolution der Ameisen‹ sowie die einundzwanzig Pyramidenbewohner.
Der Richter – ein würdiger Herr mit weißen Haaren, gepflegtem graumeliertem Bart und Halbbrille – fragte, wo der Verteidiger sei. Der Gerichtsschreiber erwiderte, eine der Angeklagten, Julie Pinson, wolle selbst die Verteidigung übernehmen, und alle anderen Angeklagten seien damit einverstanden.
»Wer ist Julie Pinson?«
Ein junges Mädchen mit hellgrauen Augen hob die Hand.
Der Richter forderte es auf, den für die Verteidigung reservierten Platz einzunehmen. Um jede Fluchtgefahr auszuschließen, wurde es von zwei Polizisten begleitet, die freundlich lächelten und ganz sympathisch wirkten. Polizisten gebärden sich wild, wenn sie Jagd auf jemanden machen, weil sie Angst vor einem Fehlschlag haben, dachte Julie, aber wenn ihre Beute erst einmal zur Strecke gebracht ist, sind sie gar nicht so übel.
Sie suchte ihre Mutter unter den Zuschauern, entdeckte sie in der dritten Reihe und nickte ihr zu. Weil ihre Mutter früher immer verlangt hatte, sie solle Jura studieren und Anwältin werden, fand sie es sehr befriedigend, jetzt ohne jedes Diplom auf der Bank des Verteidigers zu sitzen.
Der Richter schlug mit seinem Elfenbeinhämmerchen auf den Holztisch. »Das Verfahren ist eröffnet. Ich bitte um Verlesung der Anklageschrift.«
Alle Schandtaten der Revolutionäre und der Pyramidenbewohner waren genau erfaßt worden. Letzter Punkt der Anklage war der Tod von drei Polizisten während eines Einsatzes.
Danach mußte Arthur als erster vor die Gerichtsschranke treten.
»Sie sind Arthur Ramirez, 72 Jahre alt, Geschäftsmann, wohnhaft in der Rue Phoenix in Fontainebleau?«
»Ja.«
»Sagen Sie: Ja, Herr Vorsitzender.«
»Ja, Herr Vorsitzender.«
»Monsieur Ramirez, Sie haben am 12. März dieses Jahres Gaston Pinson mit einem winzigen Roboter in Form einer fliegenden Ameise ermordet. Was haben Sie dazu zu sagen?«
Arthur fuhr sich mit der Hand über die schweißnasse Stirn.
Das Stehen strengte den kranken alten Mann sehr an.
»Es tut mir wahnsinnig leid, ihn getötet zu haben. Das war nicht meine Absicht. Ich wollte ihn nur betäuben und wußte natürlich nicht, daß er allergisch gegen Anästhetika war.« »Finden Sie es normal, Menschen mit fliegenden Robotern anzugreifen?«
»Meine Freunde und ich wollten in Ruhe arbeiten, ohne von neugierigen Spaziergängern gestört zu werden. Wir haben diese Pyramide gebaut, um enge Kontakte zu Ameisen zu pflegen, mit dem Ziel einer Kooperation zwischen unseren beiden Kulturen.«
Der Richter blätterte in seinen Unterlagen. »Ach ja … Sie haben diese Pyramide ohne Baugenehmigung mitten in einem Naturschutzgebiet errichtet!«
Er schaute weitere Papiere durch.
»Wie ich sehe, war Ihre Ruhe Ihnen so kostbar, daß Sie sogar einen Polizeibeamten, Kommissar Maximilien Linart, mit Ihren fliegenden Ameisen angegriffen haben.«
»Er wollte meine Pyramide zerstören. Ich habe in Notwehr gehandelt.«
»Ihnen ist jeder Vorwand recht, um Menschen mit Ihren fliegenden Robotern zu töten!« warf der Staatsanwalt scharf ein.
Arthur bekam einen so heftigen Hustenanfall, daß er kein Wort mehr hervorbringen konnte. Zwei Polizisten führten ihn auf seinen Platz zurück, wo seine Freunde ihn auf der Anklagebank stützten, sichtlich besorgt um den alten Mann.
Jacques
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