Die Revolution der Ameisen
Gesellschaftsmodell ist, dem wir Menschen nichts entgegenzusetzen haben.«
»Es ist eine militante Welt.«
»Keineswegs. Eine Ameisenstadt gleicht eher einer Hippiegemeinschaft, wo jeder macht, was er will, ohne Chefs und Generäle, ohne Priester, ohne Polizei, ohne Repressionen.«
»Und was ist dann Ihrer Meinung nach das Geheimnis eines Ameisenhaufens?« fragte der Staatsanwalt pikiert.
»Es gibt keines«, erwiderte Julie ruhig. »Die Ameisen sind Chaoten, und sie leben in einem ungeordneten System, das aber besser funktioniert als jedes wohlgeordnete.«
»Anarchismus!« rief jemand aus dem Saal.
»Sind Sie Anarchistin?« fragte der Richter.
»Ich bin Anarchistin, wenn dieses Wort bedeutet, daß es möglich ist, in einer Gesellschaft ohne Chefs, ohne Hierarchie, ohne irgendwelche Versprechungen – sei es nun auf eine Gehaltserhöhung oder auf das Paradies nach dem Tod – zu leben. Echter Anarchismus ist der höchste Gipfel staatsbürgerlicher Gesinnung. Und die Ameisen leben seit Jahrmillionen in einem solchen System.«
Pfiffe und Beifall aus dem Saal. Die Geschworenen machten sich Notizen.
Der Staatsanwalt stand auf und zupfte an den weiten schwarzen Ärmeln seiner Robe.
»Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, daß wir die Gesellschaftsform der Ameisen imitieren sollten. Habe ich das richtig verstanden?«
»Wir müssen das Positive übernehmen und das Negative weglassen, aber in vieler Hinsicht könnten sie unserer Gesellschaft, die sich ständig im Kreis dreht, wirklich weiterhelfen. Wir sollten es ausprobieren, um herauszufinden, zu welchem Ergebnis es führt. Wenn es nicht klappen sollte, müßten wir uns eben an anderen Gesellschaftsmodellen orientieren. Vielleicht werden es die Delphine, die Affen oder die Stare sein, die uns lehren, besser als bisher im Kollektiv zu leben.«
Julie entdeckte unter den Journalisten auch Marcel Vaugirard und wunderte sich sehr darüber. Sollte er seiner Devise untreu geworden sein?
»In einem Ameisenhaufen wird aber jeder zur Arbeit gezwungen. Wie verträgt sich das mit Ihrer anarchistischen Einstellung?« fragte der Richter.
»Auch das ist ein Irrtum. In einer Ameisenstadt gehen nur fünfzig Prozent der Einwohner einer sinnvollen Arbeit nach.
Dreißig Prozent beschäftigen sich mit irgendwelchen unproduktiven Tätigkeiten – Körperpflege, Diskussionen usw.
Und zwanzig Prozent ruhen sich aus. Das ist ja gerade das Erstaunliche: mit fünfzig Prozent Nichtstuern, ohne Polizei, ohne Regierung und ohne Fünfjahrespläne, sind die Ameisen viel effizienter als wir und leben in viel größerer Harmonie zusammen. Sie sind bewundernswert, weil sie uns vormachen, daß eine Gesellschaft auch ohne Zwänge funktionieren kann.«
Zustimmendes Gemurmel im Saal. Der Richter strich sich den Bart. »Eine Ameise ist nicht frei. Sie ist biologisch gezwungen, einem olfaktorischen Aufruf zu folgen.«
»Und Sie – sind Sie frei? Seit es Mobiltelefone gibt, können Ihre Vorgesetzten Sie zu jeder Zeit und an jedem Ort erreichen und Ihnen irgendwelche Befehle geben. Wo ist da der Unterschied?«
Der Vorsitzende blickte entnervt zur Decke empor. »Schluß jetzt mit diesen Lobeshymnen auf die Insektengesellschaft. Die Geschworenen haben genug gehört, um sich eine eigene Meinung darüber bilden zu können. Nehmen Sie Platz, Mademoiselle Pinson. Kommen wir zum nächsten Angeklagten.« Er schaute in seine Unterlagen und las mühsam:
»Ji … woong …. Choi.« Der Koreaner trat nach vorne.
»Ji-woong Choi, Sie sind angeklagt, das Informationsnetz geschaffen zu haben, über das die subversiven Ideen Ihrer
›Revolution der Ameisen‹ in alle Welt verbreitet wurden.«
Der Koreaner lächelte strahlend, und die Damen unter den Geschworenen bekundeten ein gewisses Interesse an ihm. Die Lehrerin hörte auf, ihre Fingernägel zu begutachten, und die Métro-Kontrolleuse trommelte plötzlich nicht mehr auf der Tischplatte herum.
»Gute Ideen verdienen es, weit verbreitet zu werden«, sagte Ji-woong.
»Haben Sie Propaganda für die Ameisen gemacht?« fragte der Staatsanwalt spöttisch.
»Das nicht gerade, aber unseren Connections hat es gut gefallen, daß wir uns von einer nicht-menschlichen Denkweise inspirieren ließen, die menschliche zu reformieren.«
Der Staatsanwalt erhob sich wieder und schlug die weiten Ärmel wirkungsvoll zurück. »Sie haben es gehört, meine Damen und Herren Geschworenen! Der Angeklagte wollte die Fundamente unserer Gesellschaft untergraben und trügerische
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