Die Revolution der Ameisen
Ideen in die Welt setzen. Niemand kommt an der Tatsache vorbei, daß die Ameisen in einer Kastengesellschaft leben. Sie kommen als Arbeiterinnen, Soldatinnen oder geschlechtsfähige Ameisen zur Welt und können ihr Leben lang nichts daran ändern. Keine gesellschaftliche Veränderung, kein Aufstieg bei Tüchtigkeit – nichts. Von gleichen Chancen für alle keine Rede.«
Das Gesicht des Koreaners drückte große Heiterkeit aus.
»Bei den Ameisen kann jede Arbeiterin eine Idee der Gemeinschaft vortragen, und wenn diese Idee sich als gut erweist, wird sie in die Tat umgesetzt. Bei uns Menschen läßt einen niemand zu Wort kommen, wenn man keine Diplome vorweisen kann, wenn man kein bestimmtes Alter erreicht hat, wenn man keiner angesehenen Gesellschaftsschicht angehört.«
Der Richter hatte nicht die Absicht, diesen Aufwieglern eine Tribüne zu bieten. Die Geschworenen und die Zuschauer im Saal lauschten den Argumenten des Asiaten viel zu aufmerksam.
»Nächste Angeklagte: Francine Tenet. Mademoiselle, wer hat Sie angestiftet, diese ›Revolution der Ameisen‹ zu unterstützen?«
Das blonde Mädchen versuchte seine Schüchternheit zu überwinden. Ein Gerichtssaal war viel ehrfurchtgebietender als ein Konzertsaal. Sie blickte zu Julie hinüber, um sich Mut zu machen.
»Genau wie meine Freunde, Herr Vorsitzender …«
»Bitte sprechen Sie lauter, damit die Geschworenen Sie verstehen können.«
Francine räusperte sich: »Genau wie meine Freunde, so glaube auch ich, daß wir uns mit fremden Gesellschaftsformen vertraut machen müssen, um unseren Horizont zu erweitern.
Die Ameisen helfen uns, unsere eigene Welt zu verstehen.
Wenn wir sie beobachten, sehen wir uns selbst als Miniaturen.
Ihre Städte gleichen unseren Städten, ihre Straßen gleichen unseren Straßen. Die Ameisen ermöglichen es uns, zu einer anderen Sicht der Dinge zu kommen, und deshalb hat mir die Idee einer ›Revolution der Ameisen‹ gut gefallen.«
Der Staatsanwalt holte aus seinen Unterlagen mehrere Zettel hervor und schwenkte sie angriffslustig. »Ich habe mich vor Prozeßbeginn bei Entomologen über die Ameisen informiert, und ich kann Ihnen versichern, meine Damen und Herren Geschworenen, daß Ameisen keineswegs die netten, großzügigen Insekten sind, als die sie von den Angeklagten geschildert werden. Ganz im Gegenteil – Ameisen führen ständig Kriege. Seit hundert Millionen Jahren breiten sie sich auf der ganzen Welt aus. Man könnte sogar sagen, daß sie schon die Herren des Planeten sind, denn mit Ausnahme der Polarregion scheint es ihnen überall möglich zu sein, sich zu akklimatisieren und zu vermehren.«
Julie erhob sich. »Sie geben also zu, Herr Staatsanwalt, daß die Ameisen es gar nicht mehr nötig haben, irgend etwas zu erobern?«
»So ist es. Wenn ein Außerirdischer auf unserem Planeten landen sollte, würde er eher einer Ameise als einem Menschen begegnen.«
»In diesem Fall würde er in ihr zweifellos die Repräsentantin der Erdbevölkerung sehen«, fügte Julie boshaft an.
Lachen im Saal.
Der Vorsitzende war verärgert hinsichtlich dieser endlosen Debatten über Ameisen. Er wollte endlich zu den konkreten Punkten der Anklage kommen: Vandalismus, Aufwiegelung, vor allem aber der Tod der drei Polizisten. Doch nachdem der Staatsanwalt sich die Mühe gemacht hatte,
Ameisenspezialisten zu befragen, würde er es sich jetzt bestimmt nicht nehmen lassen, sein Wissen zur Schau zu stellen.
»Die Ameisen kämpfen überall gegen uns«, fuhr der Staatsanwalt leidenschaftlich fort. »Ich habe hier Dokumente, die beweisen, daß die Ameisenstädte sich zu immer größeren Föderationen zusammenschließen. Die Ursache dieses Phänomens ist noch unbekannt, aber natürlich werden sie dadurch nur noch mächtiger. Überall schießen Ameisenstädte wie Pilze aus dem Boden. Sie nisten sich sogar in Beton ein.
Keine Küche ist vor ihnen sicher.« »Was unsere Küchen enthalten, sind Produkte der Erde«, warf Julie ein. »Und die Erde hat sich noch nie zu dem Thema geäußert, welchen ihrer vielen Kinder sie ihre Reichtümer zukommen lassen will. Es gibt keinen Grund, weshalb sie die Menschen den Ameisen vorziehen sollte.«
»Das wird ja immer absurder!« rief der Staatsanwalt. »Jetzt möchte Mademoiselle Pinson den Tieren schon ein Recht auf Eigentum einräumen! Warum nicht auch noch den Pflanzen und Mineralien …? Jedenfalls steht fest, daß die Ameisenstädte überhand nehmen.«
»Ihre Städte sind bewundernswert«,
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