Die Revolution der Ameisen
Méliès erhob sich und verlangte einen Arzt. Der Mediziner vom Dienst eilte herbei und erklärte nach einer kurzen Untersuchung, der Angeklagte dürfe nicht überanstrengt werden.
»Nächster Angeklagter: David Sator.«
David legte den Weg zur Schranke ohne seine Krücke zurück.
»David Sator, 18 Jahre alt, Schüler. Sie sind angeklagt, der Stratege dieser ›Revolution der Ameisen‹ gewesen zu sein. Wir besitzen Fotos, auf denen deutlich zu sehen ist, daß Sie die Demonstranten anführten wie ein General seine Armee. Haben Sie sich für einen zweiten Trotzki gehalten? Wollten Sie die Rote Armee wieder auferstehen lassen?«
Bevor David etwas darauf erwidern konnte, fuhr der Richter fort: »Oder wollten Sie vielleicht eine Ameisenarmee schaffen?
Ach, und erklären Sie den Geschworenen doch bitte auch, warum Sie sich bei Ihrer revolutionären Bewegung ausgerechnet auf Insekten beriefen!«
»Ich habe begonnen, mich für Insekten zu interessieren, nachdem wir eine Grille in unsere Rockgruppe aufgenommen hatten, weil sie eine großartige Musikerin war.«
Im Saal wurde gelacht, aber David ließ sich nicht aus der Fassung bringen.
»Nach den Grillen, die nur eine Kommunikation von Individuum zu Individuum kennen, habe ich die Ameisen entdeckt, deren Kommunikation allumfassend ist. In einer Ameisenstadt läßt jedes Individuum die ganze Gemeinschaft an seinen Gefühlen teilhaben. Ihre Solidarität ist unübertroffen.
Was die Menschheit seit Jahrtausenden vergeblich zu realisieren versucht, war den Ameisen schon gelungen, lange bevor wir überhaupt auf der Erde aufgetaucht sind.«
»Wollen Sie uns alle mit Fühlern ausstatten?« spottete der Staatsanwalt.
Lautes Gelächter im Saal. David mußte lange warten, bevor er antworten konnte.
»Ich glaube, wenn wir ein genauso wirkungsvolles Kommunikationssystem wie die Ameisen besäßen, gäbe es nicht so viele Mißverständnisse und Lügen, nicht soviel Widersinn. Eine Ameise lügt nicht, weil sie sich gar nicht vorstellen kann, welchen Sinn das haben sollte.
Kommunikation ist für sie ein Mittel, um Informationen an andere weiterzugeben.«
Der Richter unterband das Beifallsgemurmel im Saal mit einem Schlag seines Hämmerchens.
»Nächste Angeklagte: Julie Pinson. Sie haben diese ›Revolution der Ameisen‹ angestiftet und waren ihre Galionsfigur. Abgesehen von erheblichen Schäden, die im Gymnasium angerichtet wurden, gibt es auch einen Schwerverletzten – Narcisse Arepo.«
»Wie geht es Narcisse?« fiel Julie ihm ins Wort.
»Sie haben hier keine Fragen zu stellen! Außerdem verlangt es die Höflichkeit, daß Sie mich mit ›Herr Vorsitzenden‹
anreden, wie ich vorhin schon einem Ihrer Komplizen erklärt habe. Mademoiselle, Sie scheinen von Gerichtsverfahren keine Ahnung zu haben. Ich glaube, Sie und Ihre Freunde wären mit einem Pflichtverteidiger besser beraten.«
»Entschuldigen Sie bitte, Herr Vorsitzender.«
Der Richter ließ sich besänftigen und setzte die Miene eines gütigen Großvaters auf.
»Gut. Um Ihre Frage zu beantworten – Narcisse Arepo ist immer noch im Krankenhaus, und dafür tragen Sie die Verantwortung.«
»Ich habe die gewaltlose Revolution gepredigt. Die
›Revolution der Ameisen‹ war ein Synonym für viele kleine, unmerkliche Fortschritte, die zusammengefügt Berge versetzen könnten.«
Julie drehte sich nach ihrer Mutter um, weil sie wenigstens diese eine Person überzeugen wollte, und zufällig sah sie, daß der Geschichtslehrer zustimmend nickte. Auch die Lehrer für Mathematik, Wirtschaftskunde, Sport und Biologie saßen im Saal. Nur der Philosophielehrer und die Deutschlehrerin fehlten.
»Aber warum ausgerechnet diese Ameisensymbolik?«
beharrte der Richter.
Die Anwesenheit von Presse und Fernsehen gewährleistete ein großes Publikum, und deshalb mußte Julie jedes Wort sorgfältig abwägen.
»Die Ameisen bilden eine Gemeinschaft, in der jedes Mitglied den Wunsch hat, zum Wohlbefinden aller beizutragen.«
»Eine poetische Vision, gewiß«, unterbrach der Staatsanwalt,
»aber ohne jeden Bezug zur Realität. Ein Ameisenbau funktioniert genauso perfekt wie ein Computer oder eine Waschmaschine. Es wäre Zeitvergeudung, dort nach Intelligenz oder Bewußtsein zu suchen. Bei den Ameisen handelt es sich ganz einfach um genetisch programmiertes Verhalten.«
Stimmengewirr bei den Pressevertretern. Julie mußte schnell kontern, um nicht zu unterliegen.
»Sie haben nur Angst vor dem Ameisenbau, weil er ein erfolgreiches
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