Die Revolution der Ameisen
erwiderte Julie trocken.
»Dort gibt es keine Verkehrsstaus, obwohl es auch keine Verkehrsregeln gibt. Jeder nimmt einfach Rücksicht auf die anderen und paßt sich an. Und wenn eine Straße trotz allem ständig verstopft ist, wird ein neuer Tunnel gegraben. Niemand leidet Not, denn gegenseitige Hilfe ist oberstes Gebot. Es gibt keine Asozialenviertel, weil es keine Asozialen gibt. Es gibt keine Umweltverschmutzung, denn alles wird sauber gehalten und wiederverwertet. Und es gibt auch keine Überbevölkerung, denn die Königin legt nur so viele Eier, wie die Stadt benötigt.«
Der Staatsanwalt war bereit, weiter die Klingen zu kreuzen.
»Die Insekten haben keine einzige Erfindung vorzuweisen!«
»Darf ich darauf hinweisen, Herr Staatsanwalt, daß Sie ohne die Insekten jetzt keine Zettel in der Hand hätten? Das Papier wurde nämlich von Insekten erfunden. Im ersten Jahrhundert fiel in China einem Eunuchen namens Tchouen auf, daß Wespen kleine Stückchen Holz zerkauten und mit ihrem Speichel vermischten. Er hatte die Idee, es ihnen nachzumachen.«
Der Richter war nun wirklich dieser sinnlosen Diskussionen überdrüssig. »Immerhin haben Ihre Ameisen drei Polizisten getötet.«
»Nein, sie haben sie nicht getötet, Herr Vorsitzender, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe die ganze Szene auf den Kontrollbildschirmen der Pyramide beobachtet. Die Polizisten sind vor Angst gestorben, weil ganze Scharen von Ameisen an ihnen hochgeklettert sind. Ihre eigene Fantasie hat sie umgebracht.«
»Und Sie finden es nicht grausam, wenn Scharen von Ameisen sich auf einem Menschen tummeln?«
»Grausamkeit ist ein Spezifikum der Menschen. Der Mensch ist das einzige Wesen, das anderen grundlos Schmerz zufügt, weil es ihm Spaß macht, jemanden leiden zu sehen.«
Gereizt rief der Richter Kommissar Maximilien Linart in den Zeugenstand. »Herr Kommissar, Sie befehligten sowohl die Erstürmung des Gymnasiums als auch den Einsatz bei der Waldpyramide?«
»Ja, Herr Vorsitzender.«
»Sie waren beim Tod der drei Polizisten anwesend. Können Sie uns die genauen Umstände schildern?«
»Meine Männer wurden von Horden feindseliger Ameisen überfallen. Natürlich haben die Ameisen sie umgebracht. Ich bedaure zutiefst, daß nicht alle Schuldigen auf der Anklagebank sitzen!«
»Sie meinen bestimmt Narcisse Arepo, aber der Kerl liegt ja immer noch im Krankenhaus.«
Der Kommissar lächelte verzerrt. »Nein, ich meine die wahren Mörder, die wahren Anstifter zu dieser sogenannten Revolution. Ich meine die – Ameisen.«
Aufruhr im Saal. Mit gerunzelter Stirn setzte der Richter seinen Hammer ein, um für Ruhe zu sorgen.
»Drücken Sie sich deutlicher aus, Herr Kommissar.«
»Nachdem die Pyramidenbewohner sich ergeben hatten, haben wir ganze Säcke mit den Ameisen gefüllt, die sich am Tatort aufhielten. Sie sind es, die die Polizisten getötet haben, und es wäre nur gerecht, wenn auch sie sich vor Gericht verantworten müßten.« »Halten Sie diese Ameisen immer noch gefangen?«
»Selbstverständlich, Herr Vorsitzender.«
»Aber läßt sich das französische Recht denn auch auf Tiere anwenden?« fragte Julie.
Der Kommissar wandte sich ihr zu. »Es gibt Präzedenzfälle von Tierprozessen. Ich habe entsprechende Unterlagen mitgebracht, für den Fall, daß das Gericht daran zweifeln sollte.«
Er legte einen schweren Aktenordner auf den Richtertisch.
Der Richter beratschlagte lange mit seinen beiden Beisitzern und verkündete schließlich:
»Dem Antrag von Kommissar Linart wird stattgegeben. Die Verhandlung wird morgen fortgesetzt – mit den Ameisen!«
217. ENZYKLOPÄDIE
Tierprozesse: Tiere wurden von jeher für würdig befunden, sich vor Menschengerichten verantworten zu müssen. In Frankreich werden seit dem 10. Jahrhundert Esel, Pferde und Schweine unter den verschiedensten Vorwänden gefoltert, gehängt und exkommuniziert. Im Jahre 1120 exkommunizierte der Bischof von Laon Raupen und Waldmäuse, weil sie Schäden auf den Feldern anrichteten. In den Gerichtsarchiven von Sauvigny gibt es eine Akte über den Prozeß gegen eine Sau, die für den Tod eines fünfjährigen Kindes verantwortlich gemacht wurde. Die Sau war am Tatort gefunden worden, zusammen mit sechs Ferkeln, an deren Schnauzen noch Blut klebte. Waren die Ferkel Komplicen? Die Sau wurde öffentlich an den Hinterbeinen aufgehängt, bis der Tod eintrat. Die Ferkel wurden zur Beobachtung einem Bauern übergeben, und weil sie keine Anzeichen von Aggressivität
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