Die Revolution der Ameisen
Saalmitte seine komplizierte Apparatur aufbaute, assistiert von Julie, die sich seit ihrem eigenen vergeblichen Versuch, den
›Stein von Rosette‹ zu bauen, ein wenig mit der Materie auskannte.
Alle waren sehr neugierig, ob dieses komische Gerät funktionierte, ob es tatsächlich zu einem Dialog zwischen Mensch und Ameise kommen würde. Der Richter verlangte eine Vorführung.
Ein Gerichtsdiener holte aufs Geratewohl eine Ameise aus dem Terrarium, und Arthur setzte sie in den Glaskasten mit der kleinen Kunststoffgabel. Sofort kam eine synthetische Stimme aus den Lautsprechern. Es war die Ameise, deren olfaktorische Sprache übersetzt worden war:
»HILFE!!!!!!!!!!«
Arthur regulierte die Feineinstellung.
»Hilfe! Holt mich hier raus! Ich ersticke!«
Julie warf ihr einen Brotkrumen hin, den die Ameise gierig verschlang. Arthur fragte sie, ob sie bereit sei, einige Fragen zu beantworten.
» Was ist los?« fragte die Ameise.
»Man macht euch den Prozeß«, erwiderte Arthur wahrheitsgemäß.
» Was ist das – ein Prozeß?«
»Rechtsprechung.«
» Was ist das – Rechtsprechung?«
»Man versucht, über Recht oder Unrecht zu entscheiden.«
» Was ist das – Recht und Unrecht?«
»Recht ist, wenn man etwas Gutes tut. Unrecht ist das Gegenteil.«
» Was ist das – Gutes tun?«
Arthur seufzte. Schon in der Pyramide waren die Dialoge mit Ameisen schwierig gewesen, weil man jedes Wort erklären mußte.
»Das Problem besteht darin«, sagte Julie, »daß Ameisen nicht wissen, was gut und böse ist. Sie besitzen keine Moralvorstellungen, und deshalb sind sie für ihre Taten auch nicht verantwortlich. Man muß sie deshalb freilassen.«
Der Richter beriet sich leise mit seinen Beisitzern. Sie hätten die Ameisen ganz gern in den Wald zurückgeschickt, um sie los zu sein, aber andererseits kam es höchst selten vor, daß Journalisten und Fernsehleute aus Paris sich nach Fontainebleau begaben, um über einen Prozeß zu berichten, und jetzt würden ihre Namen endlich einmal in allen Zeitungen stehen …
Der Staatsanwalt erhob sich. »Nicht alle Tiere sind so unmoralisch, wie Sie behaupten. Beispielsweise weiß man, daß es bei den Löwen tabu ist, Affen zu fressen. Ein Löwe, der einen Affen frißt, wird aus der Gemeinschaft ausgestoßen.
Dieses Verhalten kann man sich doch nur so erklären, daß es eine Löwenmoral gibt.«
Maximilien erinnerte sich daran, daß er in seinem Aquarium Fischmütter gesehen hatte, die ihre Jungen gleich nach der Geburt auffraßen. Und andere Guppys versuchten, sich mit ihrer Mutter zu paaren. Kannibalismus, Inzest, Kindesmord …
Er dachte, daß Julie ausnahmsweise recht hatte. Bei den Tieren gab es keine Moral. Sie wußten nicht, daß sie schlimme Dinge taten. Und gerade deshalb mußten sie vernichtet werden.
»Hilfe!« rief die Ameise wieder.
Der Staatsanwalt näherte sich dem Gerät. Die Ameise mußte einen dunklen Schatten wahrgenommen haben, denn sie sendete verzweifelt:
» O Hilfe! Holt uns hier raus! Dieser Raum ist mit Fingern verseucht!«
Gelächter im Saal.
Maximilien runzelte die Stirn. Das entwickelte sich ja zum reinsten Flohzirkus. Anstatt die Gefahren des Gesellschaftssystems der Ameisen aufzuzeigen, spielte man hier mit einer Maschine herum und unterhielt sich mit diesen Insekten!
Julie nutzte die gute Stimmung für einen weiteren Vorstoß.
»Lassen Sie sie frei. Man muß sie freilassen oder töten, aber man darf sie nicht in diesem Terrarium leiden lassen.«
Der Richter haßte es, wenn Angeklagte – sogar Angeklagte, die in die Rolle des Verteidigers schlüpften – ihm vorschreiben wollten, was er zu tun hatte. Hingegen hielt der Staatsanwalt das für eine gute Gelegenheit, Maximilien Linart auszustechen.
Er ärgerte sich, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein, die Ameisen unter Anklage zu stellen, aber jetzt konnte er das vielleicht wettmachen.
»Diese Ameisen hier sind im Grunde nur Statisten!« rief er, publikumswirksam vor dem ›Stein von Rosette‹ stehend.
»Wenn man die wirklich Schuldigen bestrafen will, muß man ihre Anführerin vor Gericht bringen: Nr. 103, ihre Königin.«
Die Angeklagten wunderten sich sehr, daß der Staatsanwalt etwas über Nr. 103 und ihre Rolle bei der Verteidigung der Pyramide wußte.
Der Richter sagte ungehalten, wenn hier stundenlang unverständliches Zeug geredet würde, könnten sie die Verhandlung gleich abbrechen.
»Ich weiß, daß diese Ameisenkönigin sich gut in unserer Sprache unterhalten kann«,
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