Die Revolution der Ameisen
im Geist vereint zu sein.
In ihren winzigen Gehirnen werden psychedelische Bilder erzeugt und ausgetauscht.
Um nicht wieder gegen eine Wand zu prallen, beschreibt Nr.
103 jetzt nur wenige Zentimeter vom Plexiglasdeckel entfernt kleine konzentrische Kreise in der Mitte des Terrariums.
Die psychedelischen Bilder gehen hauptsächlich von der Prinzessin aus, die sich an die romantischen Szenen in Vom Winde verweht erinnert.
Die Ameisenkultur ist zwar reich an Mythen, aber es gibt nichts, was mit Vom Winde verweht zu vergleichen wäre, denn bei Insekten dient die Vereinigung einzig und allein der Fortpflanzung. Doch Nr. 103 hat begriffen, daß ihre Gefühle dem Prinzen jene geheimnisvolle ›Liebe‹ der Finger nahebringen und deshalb beschwört sie Bilder aus der Welt der Finger herauf, um die Paarung noch lustvoller zu gestalten.
Die anderen beobachten das Liebespaar bewundernd und spüren, daß dort oben etwas Neuartiges geschieht. Nr. 10 legt sogar eine ›mythologische Pheromonakte‹ über diese romantische Szene an.
Doch plötzlich fühlt der Prinz sich gar nicht mehr wohl.
Seine Fühler zucken, und sein Herz schlägt immer schneller.
Pamm … pamm, pamm, pamm, pamm, pamm … pamm!
Pamm, pamm, pamm.
Der Richter klopfte dreimal auf den Tisch. Die Verhandlungspause war vorüber.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, nehmen Sie bitte wieder Platz.«
Er informierte die Geschworenen, daß die Ameisen als intelligente Wesen schuldfähig seien und daß sie – die Geschworenen – deshalb auch über das Strafmaß für Nr. 10\1 und deren Komplicen nachdenken müßten.
»Das verstehe ich nicht!« rief Julie. »Die Ameise hat doch gewonnen.«
»Ja«, erwiderte der Richter, »aber dieser Sieg beweist nur die Intelligenz, nicht aber die Unschuld der Ameisen. Die Anklage hat das Wort.«
Der Staatsanwalt erhob sich. »Meine Damen und Herren Geschworenen, ich kann Ihnen Unterlagen zeigen, aus denen eindeutig hervorgeht, daß Ameisen die Feinde des Menschen sind. Beispielsweise ist es in Florida zu einer regelrechten Invasion von Feuerameisen gekommen.«
Arthur stand auf. »Sie vergessen zu erwähnen, daß man dieser Feuerameisen mit Hilfe einer anderen Ameisengattung, der Solenopsis daugerri, sehr schnell Herr geworden ist. Diese Gattung vermag die Pheromone einer Königin der Feuerameisen nachzuahmen und täuscht auf diese Weise die Arbeiterinnen, die ihre eigene Königin verhungern lassen, um die Solenopsis daugerri zu ernähren. Die Menschen brauchen sich also nur mit bestimmten Ameisenarten zu verbünden, um andere ausrotten zu können …«
Der Staatsanwalt fiel Arthur ins Wort und ging auf die Geschworenen zu.
»Wir werden die Insekten nicht los, indem wir ihnen unsere Geheimnisse verraten«, beschwor er sie. »Ganz im Gegenteil –
wir müssen diese Ameisen, die schon viel zuviel wissen, schleunigst eliminieren, bevor sie ihre Kenntnisse an Artgenossen weitergeben können.«
Im Terrarium hält die Ekstase weiter an. Das Liebespaar kreist immer schneller, so als wäre es in einen Wirbelsturm geraten. Das Herz des Prinzen schlägt immer unregelmäßiger.
Ihm wird schwarz vor Augen.
Der Staatsanwalt war mit seinen Ausführungen fast am Ende.
»Für die sogenannten Revolutionäre beantrage ich wegen Sachbeschädigung und Störung der öffentlichen Ordnung eine sechsmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Für die sogenannten Pyramidenbewohner beantrage ich wegen Beihilfe zum Mord eine Haftstrafe von sechs Jahren ohne Bewährung.
Und für Prinzessin Nr. 103 und ihre Komplicen beantrage ich wegen der Ermordung von drei Polizisten die – Todesstrafe!«
Im Publikum wurde Unmut laut. Der Richter schlug automatisch mit seinem Hämmerchen auf den Tisch. »Darf ich meinen Kollegen von der Staatsanwaltschaft daran erinnern, daß die Todesstrafe in unserem Land seit langem abgeschafft ist!«
»Für Menschen, Herr Vorsitzender, für Menschen! Ich habe gründlich recherchiert. Es gibt kein Gesetz, das die Todesstrafe für Tiere verbietet. Man schläfert Hunde ein, die Kinder beißen. Man tötet Füchse, die Tollwut übertragen. Und wer von uns könnte von sich behaupten, noch nie im Leben eine Ameise zerquetscht zu haben?«
Alle mußten zugeben, daß der Staatsanwalt recht hatte. Wer hatte noch nie eine Ameise getötet, und sei es auch nur aus Unachtsamkeit?
»Staatsbürgerliches Pflichtbewußtsein und das Recht auf Verteidigung legitimieren die Todesstrafe für Nr. 103 und ihre Gefährtinnen, denn
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