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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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überaus besorgt. Vielleicht hatte man in dem Blumentopf eine besonders dumme Ameise erwischt?
    Endlich begann sie, langsam und vorsichtig den Boden um ihre Beine herum zu beschnuppern.
    Der Mensch hatte sich in seiner Eile verirrt und war in einer Sackgasse gelandet. Er machte hastig kehrt; weil er nicht wußte, daß die Gegenkandidatin sich noch nicht einmal auf den Weg gemacht hatte, zählte für ihn jede Sekunde.
    Die Ameise rückte einige Schritte vor, drehte sich im Kreis und richtete plötzlich die Fühler auf.
    Die Ameisen vor dem Bildschirm wußten, was das bedeutete, und auch Julie flüsterte David aufgeregt zu: »Jetzt! Sie hat den Honig gerochen.«
    Sofort schlug die Ameise den richtigen Weg ein. Auch der Mensch hatte den richtigen Weg wiedergefunden. Den Zuschauern kam es so vor, als bewegten sich beide Kandidaten gleich schnell, und sie bogen sogar fast gleichzeitig um die gleichen Ecken ihrer jeweiligen Labyrinthe.
    »Ich setze auf den Menschen!« rief der Gerichtsschreiber.
    »Ich auf die Ameise!« ging der erste Beisitzer auf die Wette ein.
    Die Ameise steuerte auf eine Sackgasse zu, und Nr. 103 und die ihren gerieten in helle Aufregung.
    »Nein, nein, nicht dorthin!« gaben sie mit Warnpheromonen zu verstehen, doch diese olfaktorische Botschaft konnte die Kandidatin wegen des Plexiglasdeckels nicht wahrnehmen.
    Der Mensch bewegte sich ebenfalls auf eine Sackgasse zu, und seine Anhänger stöhnten: »O nein, nicht dorthin!« Aber auch er konnte diese Warnung nicht hören.
    Beide Kandidaten blieben unschlüssig stehen.
    Schließlich ging der Mensch in die richtige Richtung. Die Ameise entschied sich für die Sackgasse.
    Die Anhänger des Menschen waren zuversichtlich. Ihr Kandidat mußte nur noch um zwei Ecken biegen, dann war er am Ziel.
    Erbost darüber, sich in einer Sackgasse im Kreis zu drehen, tat die Ameise plötzlich etwas völlig Unerwartetes: sie kletterte an der Papierwand hoch. Vom Honigduft angelockt, rannte sie geradewegs auf das rote Lämpchen zu, wobei sie die Mäuerchen wie bei einem Hindernislauf einfach übersprang.
    Sie stürzte sich gierig auf den Honig und löste dadurch den Klingelton aus.
    Die Menschen auf der Anklagebank jubelten genauso wie die Ameisen im Terrarium, die sich mit den Fühlern berührten, um den Sieg ihrer Artgenossin zu feiern.
    Der Staatsanwalt sprang erregt auf und eilte auf den Richtertisch zu. »Sie hat geschummelt! Sie hat genauso geschummelt wie die beim letzten Spiel. Sie durfte nicht über die Mauern klettern.«
    »Nehmen Sie bitte wieder Platz«, ermahnte ihn der Richter.
    »Nein, sie hat nicht geschummelt!« rief Julie. »Sie hat nur ihre originelle Denkweise genutzt. Es galt ein Ziel zu erreichen, und sie hat es erreicht und damit ihre Intelligenz bewiesen. Von einem Verstoß gegen die Spielregeln kann keine Rede sein, denn es bestand kein Verbot, über die Mauern zu klettern.«
    »Dann hätte der Mensch es also auch tun dürfen?« fragte der Staatsanwalt.
    »Selbstverständlich. Er hat verloren, weil es ihm gar nicht in den Sinn kam, daß es auch eine andere Möglichkeit geben könnte als den Weg durch die Gänge. Er glaubte, sich an Regeln halten zu müssen, die in Wirklichkeit gar nicht existierten. Die Ameise hat gewonnen, weil sie mehr Fantasie besaß, das ist alles. Man muß auch ein guter Verlierer sein können, Herr Staatsanwalt.«
     

232. ENZYKLOPÄDIE
     
    Bambi-Syndrom: Liebe kann manchmal genauso gefährlich sein wie Haß. In den Naturparks von Europa und Nordamerika stößt der Besucher oft auf Rehkitze, die einsam und verlassen zu sein scheinen, obwohl ihre Mutter in Wirklichkeit immer in der Nähe ist. Jeder Mensch fühlt sich zu diesem zutraulichen Geschöpf, das wie ein großes Plüschtier aussieht, hingezogen und will es streicheln. Es ist eine zärtliche Geste, und doch ist sie für das Kitz tödlich, denn in den ersten Wochen erkennt die Mutter ihr Kleines nur am Geruch, und sobald der Mensch das weiche Fell berührt, hinterläßt er dort seine eigenen Gerüche.
    Dadurch vernichtet er die olfaktorische ›Identitätskarte‹ des Kitzes, das daraufhin von seiner ganzen Familie im Stich gelassen wird und unweigerlich verhungert. Man nennt diese mörderische Liebkosung das ›Bambi-Syndrom‹ oder auch das
    ›Walt-Disney-Syndrom‹.
    EDMOND WELLS,
    Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
     

233. ALLEIN UNTER BÄUMEN
     
    Kommissar Maximilien Linart ertrug den Spektakel im Gerichtssaal einfach nicht mehr. Er

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