Die Revolution der Ameisen
die zahlreichsten Erdbewohner.
»Die Entomologen kennen etwa 5 Millionen verschiedene Arten, und jeden Tag werden 100 unbekannte Arten neu entdeckt. Zum Vergleich: Bei den Säugetieren wird jeden Tag nur eine einzige bisher unbekannte Gattung gefunden.«
Er schrieb groß an die Tafel: »80 % des Tierreichs!«
Ein Bzzz war plötzlich im Zimmer zu hören, und der Lehrer fing mit einer geschickten Geste das Insekt ein, das seinen Unterricht störte. Triumphierend hielt er den zerquetschten Körper hoch, an dem noch zwei Flügel und ein Fühler zu erkennen waren.
»Das war eine fliegende Ameise«, erklärte er. »Zweifellos eine Königin. Nur die geschlechtsfähigen Ameisen haben Flügel. Die Männchen sterben gleich nach der Begattung, die im Flug vollzogen wird. Die Weibchen fliegen allein weiter, auf der Suche nach einem Ort, wo sie ihre Eier ablegen können. Wie Sie sicher selbst schon festgestellt haben, nimmt die Zahl der Insekten immer mehr zu, seit die Temperaturen auf der Erde steigen.«
Er betrachtete die verstümmelte Ameisenkönigin.
»Der Hochzeitsflug findet im allgemeinen kurz vor einem Gewitter statt. Das Auftauchen dieser Königin deutet also darauf hin, daß es morgen regnen wird.«
Der Biologielehrer warf die sterbende Ameise in ein Terrarium von l m Länge und 50 cm Höhe, in dem Frösche lebten, die sich sofort um den Leckerbissen balgten.
»Man beobachtet eine sehr starke Vermehrung der Insekten«, fuhr er fort, »die zudem immer resistenter gegen Insektizide werden. In Zukunft dürfte es in unseren Schränken noch mehr Schaben, in unserem Zucker noch mehr Ameisen, in Holztäfelungen noch mehr Termiten und in der Luft noch mehr Mücken und Ameisenprinzessinnen geben. Decken Sie sich deshalb reichlich mit Insektiziden ein.«
Während die Schüler sich noch Notizen machten, kündigte der Lehrer an, daß sie nun zum praktischen Teil des Unterrichts übergehen würden.
»Heute interessieren wir uns für das Nervensystem, speziell für die peripheren Nerven.«
Er forderte die Schüler in der ersten Reihe auf, die Glasbehälter auf dem Labortisch an ihre Klassenkameraden zu verteilen. In jedem Behälter saß ein Frosch, und der Lehrer demonstrierte an einem Exemplar, was zu tun war. Um den Frosch zu betäuben, mußte man einen mit Äther getränkten Wattebausch in das Gefäß werfen, das Tier sodann herausholen, mit Nadeln auf ein Stück Gummi spießen und die Blutstropfen unter dem Wasserhahn abwaschen, um bei der weiteren Arbeit nicht behindert zu werden.
Mit Pinzette und Skalpell sollten die Schüler die Haut einschneiden, die Muskeln freilegen und schließlich mit Hilfe einer Batterie und zweier Elektroden den Nerv suchen, der für die Kontraktionen des rechten Beins zuständig war. Alle Schüler, denen es gelingen würde, Zuckungen des rechten Beins ihres Frosches hervorzurufen, würden eine Eins bekommen.
Der Lehrer ging von einem zum anderen und kontrollierte den Stand der Dinge. Einigen Schülern gelang es nicht, den Frosch zu betäuben, obwohl sie schon mehrere Wattebäusche mit Äther ins Glas geworfen hatten. Andere glaubten, ihn erfolgreich eingeschläfert zu haben, doch als sie versuchten, ihn mit Nadeln auf die Gummiunterlage zu spießen, begann der Frosch verzweifelt mit seinem noch freien Bein zu strampeln.
Julie betrachtete ihren Frosch und hatte flüchtig den Eindruck, als säße sie selbst in dem Behälter. Unweit von ihr hatte Gonzague Dupeyron seinen Frosch bereits mit zwanzig rostfreien Nadeln durchbohrt, so daß das Tier dem hl. Sebastian ähnelte. Schlecht betäubt, versuchte es sich zu befreien, doch die geschickt plazierten Nadeln verhinderten jede Bewegung, und weil es nicht schreien konnte, begriff niemand, wie sehr es litt. Ein schwaches, klagendes Quaken verhallte ungehört.
»Hör mal, ich kenne einen guten Witz. Weißt du, welches der längste Nerv im menschlichen Körper ist?« fragte Gonzague einen seiner Nachbarn.
»Nein.«
»Der Sehnerv.«
»Aha! Und warum?«
»Man braucht uns nur ein Haar am Hintern auszureißen, und schon vergießen wir eine Träne.«
Sie lachten schallend, und Gonzague legte – zufrieden über seinen tollen Witz – den Muskel des Frosches frei und fand den Nerv. Er setzte die Elektroden an, und das rechte Bein zuckte krampfhaft. Der gemarterte Frosch öffnete den Mund, brachte aber, vor Schmerz gelähmt, keinen Laut mehr hervor.
»Ausgezeichnet, Gonzague, Sie haben Ihre Eins«, lobte der Lehrer. Der Primus machte sich daraufhin
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