Die Revolution der Ameisen
Überlebensmöglichkeit. Nr. 10\1 versucht, Ruhe zu bewahren. Sie hebt ihre Fühler zum Himmel empor. Die Erde ist ein einziger Heuschreckenteppich, aber dort oben ist die Sonne wieder zu sehen. Um sich Mut zu machen, trällert sie ein altes belokanisches Lied:
»Sonne, geh ein in unsre hohlen Körper, mach unsre schmerzenden Muskeln geschmeidig und vereine unsre geteilten Gedanken.«
Die dreizehn Ameisen hängen an den höchsten Zweigen des Heidelbeerstrauchs, doch auch hier landen jetzt immer mehr Heuschrecken, so daß sie sich bald wie Nadeln in einem Heuhaufen vorkommen.
52. BEI FRANCINE
Siebenter Stock ohne Lift. Ganz schön anstrengend. Oben angelangt, atmeten sie tief durch. Hier oben fühlten sie sich sicher vor den Gefahren, die überall auf den Straßen lauerten.
Es war die vorletzte Etage, aber der Müll, der wegen des Streiks nicht abgeholt worden war, stank sogar bis hierher. Die Blondine mit den halblangen Haaren mußte lange in ihrer großen Tasche wühlen, bis sie triumphierend einen Schlüsselbund hervorzog.
Sie öffnete die vier Schlösser und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, die – wie sie berichtete – wegen der Feuchtigkeit klemmte.
Bei Francine schien es nur Computer und Aschenbecher zu geben. Was sie großartig als ›Wohnung‹ bezeichnete, war in Wirklichkeit nur ein winziges Apartment. Eine Überschwemmung bei den Mietern über ihr hatte Schimmelflecken an der Decke hinterlassen, und die Tapete war braun verfärbt. Francine war keine gute Hausfrau, das sah man sofort. Überall lag dicker Staub. Auf Julie wirkte dieses Apartment ziemlich deprimierend.
»Fühl dich wie zu Hause«, sagte Francine und deutete auf einen Sessel, der bestimmt vom Sperrmüll stammte.
Julie setzte sich, und Francine fiel auf, daß das Knie ihrer neuen Freundin eiterte.
»Sind das die Verletzungen, die dir die Schwarzen Ratten zugefügt haben?«
»Ja. Sie tun nicht weh, aber ich spüre jeden Knochen und Muskel. Wie soll ich dir das erklären? Es ist so, als hätte ich meine Knie erst jetzt bewußt wahrgenommen. Ich weiß jetzt, daß ich eine Kniescheibe und Gelenke habe, die auf komplizierte Weise dafür sorgen, daß ich mein Bein biegen kann.«
Während Francine die Verletzung untersuchte, überlegte sie, ob Julie ein wenig masochistisch veranlagt war. Sie schien die Schnittwunden fast zu genießen.
»Sag mal, welche Drogen nimmst du eigentlich?« erkundigte sie sich. »Rauchst du Gras? Ich werde dich jetzt erst mal verarzten. Irgendwo habe ich noch Watte und Pflaster.«
Julie wunderte sich sehr, daß es sie nicht störte, als Francine ihren Rock bis zu den Oberschenkeln hochschob und auch noch kommentierte: »Du hast sehr schöne Beine und solltest sie zeigen. Außerdem würde die Wunde an der Luft schneller heilen.«
Sie gab Julie eine Marihuanazigarette und fuhr fort:
»Ich werde dir eine gute Fluchtmöglichkeit zeigen. Mag sein, daß ich keine große Leuchte bin, aber ich habe gelernt in mehreren parallelen Realitäten zu leben, und du kannst mir glauben, meine Liebe – es ist toll, eine Wahl zu haben Das Leben ist wahnsinnig frustrierend, aber es wird erträglicher, wenn man sich von einer Realität in die andere zappen kann.«
Sie schaltete ihre Computer ein, und das triste Zimmer verwandelte sich in das Cockpit eines Überschallflugzeugs.
Kontrollampen blinkten, Geräte knisterten, und sofort vergaß man die schmutzigen Wände.
»Du hast wirklich eine tolle Sammlung von EDV-Anlagen«, sagte Julie bewundernd.
»Ja, ich gebe mein ganzes Geld dafür aus. Meine größte Leidenschaft sind Computerspiele. Ich lege eine alte Platte von Genesis auf, zünde mir einen Joint an und amüsiere mich damit, künstliche Welten zu erschaffen. Im Augenblick gefällt mir Evolution am besten. Mit diesem Programm kann man ganze Zivilisationen ins Leben rufen. Man läßt sie gegeneinander Krieg führen, aber man fördert auch ihre Kunst, ihre Landwirtschaft, Industrie und Handel und so weiter. Das ist ein interessanter Zeitvertreib, und man hat dabei das Gefühl, die Geschichte der Menschheit nachzuvollziehen. Möchtest du es einmal ausprobieren?«
»Warum nicht?«
Francine erklärte ihr, wie man Ackerbau betreiben, den technischen Fortschritt intensivieren, Kriege führen, Straßen bauen, Forschungsreisen initiieren, diplomatische Beziehungen mit Nachbarvölkern aufnehmen, Handelskarawanen ausschicken, Spione einsetzen, Wahlen anordnen und die kurz-, mittel-und langfristigen Konsequenzen jeder
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