Die Revolution der Ameisen
freundlich.
»Nein, aber ich hatte früher Gesangsunterricht.«
»Und was singst du?«
»Ich habe eine Sopranstimme und habe hauptsächlich Lieder von Purcell, Ravel, Schubert, Fauré und Satie gesungen. Und ihr – welche Art von Musik spielt ihr?«
»Rock.«
»Das besagt noch gar nichts. Welche Art Rock?«
Paul ergriff das Wort. »Wir haben eine besondere Vorliebe für Genesis, speziell für die frühen Alben wie Nursery Crime , Foxtrot , The Lamb Lies Down on Broadway und A Trick of Tail … und dann alles von Yes, wobei wir die Alben Close to the Edge und Tormato bevorzugen … und natürlich alles von Pink Floyd, aber ganz besonders Animals , I Wish You Were Here und The Wall .«
Julie nickte. »Ich verstehe … uralter Rock aus den 70er Jahren, damals progressiv, heute eher verstaubt.«
Ihre abfällige Äußerung über die Lieblingsmusik der Gruppe sorgte für eisige Mienen. Nur David kam ihr wieder zu Hilfe:
»Willst du nicht versuchen, mit uns zu singen?«
Sie schüttelte ihre dunkle Haarmähne. »Nein, danke, meine Stimme ist nicht mehr in Ordnung. Ich habe eine Operation hinter mir, und der Arzt hat mir geraten, meine Stimmbänder nicht zu strapazieren.«
Ihr Blick schweifte vom einen zum anderen. In Wirklichkeit hatte sie große Lust, mit den Sieben Zwergen zu singen, und alle spürten das, aber sie hatte sich dermaßen angewöhnt, immer nein zu sagen, daß sie nun instinktiv jeden Vorschlag ablehnte.
»Wenn du nicht singen willst – wir halten dich bestimmt nicht auf!« wiederholte Zoé.
David verhinderte eine Eskalation. »Wir könnten es doch mit einem alten Blues versuchen – so einem Zwischending zwischen klassischer Musik und progressivem Rock. Du improvisierst den Text, so wie es dir gerade in den Sinn kommt, und brauchst deine Stimme auch nicht zu strapazieren.
Es genügt, wenn du trällerst.«
Mit Ausnahme der weiterhin skeptischen Zoé stimmten alle diesem Vorschlag zu. Ji-woong deutete auf das Mikrofon mitten im Zimmer.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Francine. »Auch wir haben eine klassische Ausbildung hinter uns. Ich selbst hatte fünf Jahre Klavierunterricht, aber mein Lehrer war so konformistisch, daß ich bald Lust bekam, Jazz und Rock zu spielen, nur um ihn zu ärgern.«
Alle nahmen ihre Plätze ein. Paul ging zur Verstärkeranlage und stellte die Potentiometer ein.
Ji-woong wählte am Schlagzeug ein einfaches Zweitaktmotiv, und Zoé unterstützte ihn am Baß. Narcisse spielte die üblichen Bluesakkorde: acht C, vier A, vier C , zwei H, zwei A, zwei C. David wiederholte diese Akkorde arpeggio auf seiner elektrischen Harfe, Francine auf ihrer Orgel. Der musikalische Rahmen war vorgegeben. Nun fehlte nur noch die Stimme.
Julie griff langsam nach dem Mikrofon. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Dann öffneten sich ihre Lippen, und sie wagte den Sprung ins tiefe Wasser.
Sie sang zu dieser Bluesmelodie den erstbesten Text, der ihr in den Sinn kam:
Eine grüne Maus lief durchs grüne Gras …
Anfangs war ihre Stimme belegt, doch schon bei der zweiten Zeile gewannen ihre Stimmbänder an Kraft. Sie begleitete nacheinander alle Musikinstrumente und übertönte sie. Man hörte die Gitarre, die Harfe und die Orgel nicht mehr, nur noch Julies Stimme und im Hintergrund Ji-woongs Schlagzeug.
»… und schon habt ihr eine schöne warme Schnecke.« Sie schloß die Augen und fügte hinzu: »Oooooooo.«
Ihre Stimme sprengte den Empfindlichkeitsbereich des Mikrofons. »Der Raum ist so klein, daß ich keinen Verstärker brauche«, verkündete Julie, sang eine Note, und die Wände hallten wider. Ji-woong und David starrten sie beeindruckt an, während Paul ungläubig die Skalen seines Verstärkers betrachtete. Julies Stimme glich einem mächtigen Wasserfall, der jeden Winkel des Raums ausfüllte.
Danach trat eine lange Stille ein. Francine applaudierte als erste, und die anderen taten es ihr nach.
»Das unterscheidet sich zwar gewaltig von dem, was wir sonst machen, aber interessant ist es«, kommentierte Narcisse, ausnahmsweise einmal ganz ernsthaft.
»Du hast die Aufnahmeprüfung glänzend bestanden«, verkündete David. »Wenn du willst, kannst du bei uns mitmachen.«
Bisher hatte Julie immer nur mit einem Lehrer gearbeitet, aber jetzt hatte sie große Lust, mit dieser Band zu singen. Als nächstes versuchten sie es mit einem Lied von Pink Floyd:
›The Great Gig in the Sky‹. Julie staunte, daß ihre Stimmbänder plötzlich wieder funktionierten, daß ihre
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