Die Revolution der Ameisen
erwidert, hier werde das ›Gelee royale‹
zwar tatsächlich hergestellt, aber sie sehe nicht ein, warum sie dieses wertvolle Produkt an eine Ameise vergeuden solle.
Nr. 103 sendet mit großer Mühe einen Pheromonsatz, der Sekunden später von den Fühlern der Wespenkönigin empfangen wird: »Ich muß geschlechtsfähig werden.«
Die Wespenkönigin ist erstaunt. Wozu soll das gut sein?
59. ENZYKLOPÄDIE
Allgemeine Dreiecke: Es ist manchmal schwieriger, x-beliebig als außergewöhnlich zu sein. Das läßt sich anhand von Dreiecken beweisen. Die meisten Dreiecke sind gleich-schenklig (2 Seiten von gleicher Länge), rechtwinklig oder gleichseitig (3 Seiten von gleicher Länge).
Es gibt so viele exakt definierte Dreiecke, daß es sehr schwierig ist, ein Dreieck zu zeichnen, das nicht zu einer dieser Kategorien gehört. Man sollte meinen, es genüge, ein Dreieck mit verschieden langen Seiten zu zeichnen, aber das stimmt nicht. Im allgemeinen Dreieck darf es keine gleichen Winkel geben, keinen rechten Winkel und keinen Winkel über 90°.
Dem Forscher Jacques Loubczanski ist es mit viel Mühe gelungen, ein echtes »allgemeines Dreieck« zu definieren. Man muß die Hälfte eines diagonal zerschnittenen Quadrats und die Hälfte eines gleichseitigen Dreieck zusammenfügen, um ein allgemeines Dreieck zu erhalten. Es ist wirklich nicht einfach, einfach zu sein!
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens, Band III
60. DAS EXAMEN
Wozu will sie plötzlich geschlechtsfähig werden? Es gibt absolut keinen biologischen Grund, weshalb eine geschlechtslose Ameise, die einer geschlechtslosen Kaste entstammt, mit einemmal fortpflanzungsfähig werden möchte!
Nr. 103 begreift, daß die Wespenkönigin sie einem Examen unterziehen will. Sie sucht nach einer besonders intelligenten Antwort, aber ihr fällt nichts Besseres ein als: »Geschlechtsfähige leben länger.«
Bei den Fingern hat sie so viele nichtssagende Fernseh-diskussionen gesehen, daß sie verlernt hat, sofort auf das Wesentliche zu kommen.
Hingegen bringt die Wespenkönigin ihre olfaktorischen Sätze mit großer Intensität vor. Wie alle Königinnen, so vermag auch sie über andere Themen als Nahrung und Sicherheit zu sprechen. Sie liebt Diskussionen und abstrakte Ideen.
In erster Linie drückt sie sich durch Gerüche aus, unterstreicht ihre Worte aber auch durch heftiges Gestikulieren mit den Fühlern. Irgendwann müsse die Ameise ja doch sterben, erklärt sie unumwunden. Wozu dann dieser Versuch, länger zu leben?
Nr. 103 erkennt, daß sie es mit einer sehr skeptischen Gesprächspartnerin zu tun hat. Und hat die Wespenkönigin nicht sogar recht? Warum sollte ein langes Leben einem kurzen vorzuziehen sein?
Nr. 103 gibt vor, in den Genuß der besonderen Eigenschaften geschlechtsfähiger Ameisen kommen zu wollen: also einer größeren Sensibilität der Sinnesorgane, die ein intensiveres Gefühlsleben ermöglichen.
Die Wespenkönigin entgegnet, das seien keine Vorteile, sondern eher Nachteile. Empfindliche Sinnesorgane führten nur zu ständiger Furcht. Deshalb lebten die Männchen nicht lange, und die Weibchen führten ein abgeschiedenes Leben, fernab aller Gefahren der Welt. Sensibilität sei eine Quelle ständigen Unbehagens.
Nr. 103 sucht nach neuen, überzeugenderen Argumenten. Sie will geschlechtsfähig werden, um Nachkommen in die Welt setzen zu können.
Diesmal scheint die Wespenkönigin interessiert zu sein.
Warum will die Ameise sich fortpflanzen? Warum genügt es ihr nicht, als Einzelwesen existiert zu haben?
Daß die Wespenkönigin ständig nach dem ›Warum‹ fragt, ist ein Zeichen für ihre ungewöhnliche Intelligenz, denn im allgemeinen sind soziale Insekten wie Ameisen und Wespen nur am ›Wie‹ interessiert. Man will keine Ursachen ergründen, sondern nur wissen, wie man mit den Folgen fertigwerden kann.
Die alte rote Ameise erklärt, sie wolle ihren genetischen Code weitergeben.
Die Wespenkönigin schwenkt ihre Fühler, um ihrer Skepsis Ausdruck zu verleihen. Inwiefern sei der genetische Code von Nr. 103 denn so besonders interessant? Er unterscheide sich doch in nichts von dem Code ihrer mindestens zehntausend Geschwister.
Nr. 103 weiß, worauf die Wespe hinaus will. Sie will ihr klarmachen, daß ein Einzelwesen völlig bedeutungslos ist, daß es anmaßend ist, die eigenen Gene für besonders wertvoll zu halten. Ein solches Verhalten gilt bei den Ameisen und Wespen als krankhaft und trägt den Namen
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