Die Revolution der Ameisen
können. Besonders viel erhofften sie sich vom Fax.
Französische Zeitungen schlugen ihren Lesern vor, zur Unterstützung der Rebellen Faxe zu schicken. Das Resultat: Die chinesische Polizei brauchte nur die Faxe aus Frankreich zu überwachen, um einen Revolutionär nach dem anderen verhaften zu können. Diese jungen Chinesen, die in Gefängnissen sitzen und gefoltert werden, denen sogar – wie man heute weiß – gesunde Organe entnommen wurden, um sie altersschwachen Herrschenden zu implantieren – diese Chinesen werden den Franzosen, die sie per Fax unterstützten, bestimmt sehr dankbar sein! Hier haben Sie ein gutes Beispiel für den Beitrag, den moderne Technologien zum Gelingen von Revolutionen leisten.«
Lehrer und Schülerin maßen einander mit Blicken. Seine Geschichte hatte Julie ein wenig verunsichert.
Nicht nur die Klasse hatte ihre Freude an der Debatte, sondern auch der Lehrer, der sich dadurch plötzlich wieder jung fühlte. Er war früher Kommunist gewesen und hatte eine große Enttäuschung erlebt, als seine Partei ihn aufgefordert hatte, seine Sektion aus irgendwelchen obskuren Gründen lokaler Wahlbündnisse freiwillig aufzulösen. In Paris hatte man ihn und die seinen einfach fallengelassen, um irgendwo – er wußte nicht einmal, wo – einen Parlamentssitz behalten zu können. Frustriert hatte er die Politik aufgegeben, doch das alles konnte er seinen Schülern natürlich nicht erzählen.
Julie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Gib’s auf«, flüsterte Ji-woong. »Er wird dir auf keinen Fall das letzte Wort lassen.«
Der Lehrer warf einen Blick auf seine Uhr. »Die Stunde ist gleich um. Nächste Woche werden wir die Russische Revolution von 1917 durchnehmen. Auch dort Hungersnöte, Massaker und liquidierte Herrscher, aber immerhin mit Balalaikaklängen und Schneegestöber als Dekoration. Alle Revolutionen ähneln sich im Grunde, nur die Umgebung und die Folklore sind verschieden.«
Er warf einen letzten Blick in Julies Richtung. »Ich verlasse mich darauf, Mademoiselle Pinson, daß Sie mir wieder interessante Gegenargumente liefern. Sie gehören zu jenen Menschen, Julie, die ich gewalttätige Verfechter der Gewaltlosigkeit‹ nennen möchte, und die sind oft am schlimmsten. Sie kochen Hummer auf kleiner Flamme, weil sie nicht den Mut haben, die Tiere ins kochende Wasser zu werfen. Resultat: Der Hummer leidet viel mehr und viel länger. Aber vielleicht werden Sie mir ja beantworten können, Julie, wie die Bolschewiken es hätten anstellen sollen, den Zaren ›gewaltlos‹
loszuwerden. Eine interessante Hausaufgabe …«
Die Klingel beendete die Geschichtsstunde.
58. DAS WESPENNEST
Es ähnelt einer grauen Glocke. Wachposten der Papierwespen mit scharfen schwarzen Stacheln umschwirren das Nest.
So wie Schaben die Vorfahren der Termiten sind, sind Wespen die Ahnen der Ameisen. Bei den Insekten gibt es manchmal noch Kontakte zwischen ursprünglichen und weiterentwickelten Arten. Das ist so, als würden Menschen von heute mit den Australopitheken zusammenleben, von denen sie abstammen.
Wespen mögen zwar primitiv sein, aber sie sind nichtsdestotrotz sozial veranlagt. Sie leben gruppenweise in Nestern aus Pappmache, obwohl diese Rohbauten weder mit den weiträumigen Honigbauten der Bienen noch mit den Ameisenstädten konkurrieren können.
Nr. 103 und ihre Gefährtinnen nähern sich dem Nest. Es kommt ihnen sehr labil vor, aber Papierwespen bauen ihre Dörfer nun einmal aus Papierpaste, die entsteht, indem sie totes oder wurmstichiges Holz lange kauen und mit ihrem Speichel verkleben.
Die Wespenwächterinnen senden Alarmpheromone aus, als sie die Ameisen sehen, die in ihre Richtung klettern. Mit abwehrbereiten Stacheln rücken sie vor, um die Eindringlinge aufzuhalten.
Die Kontaktaufnahme zwischen zwei Zivilisationen ist immer ein kritischer Augenblick, weil der erste Reflex oft zur Gewaltanwendung rät. Nr. 14 fällt eine Strategie ein, um die Wespen zu besänftigen: Sie würgt etwas Nahrung aus und bietet sie den Wespen dar. Man ist immer überrascht, wenn jemand, den man für einen Feind hält, einem ein Geschenk überreicht.
Die Wespen nähern sich mißtrauisch. Nr. 14 legt ihre Fühler nach hinten, zum Zeichen, daß sie nicht angriffslustig ist. Eine Wespe klopft ihr mit den Fühlerspitzen auf den Schädel, aber Nr. 14 reagiert nicht darauf, und auch die anderen Belokanerinnen legen ihre Fühler nach hinten.
Eine Wespe gibt ihnen in olfaktorischer Sprache zu verstehen,
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