Die Revolution der Ameisen
kupferroten Monsters zu entgehen. Sie sieht es jetzt aus nächster Nähe. Vorne sind die beiden scharfen Scheren, mit denen es sein Opfer einschließt, bevor es ihm mit dem Stachel den Garaus macht.
Acht Beine erlauben dem Ungetüm, sich sehr schnell in alle Richtungen und sogar seitwärts zu bewegen. Hinten befindet sich ein langer Schwanz aus sechs flexiblen Segmenten, mit einer scharfen Spitze am Ende, einem riesigen gelben Dorn voll tödlichen Saftes.
Wo sind die Sinnesorgane des Spinnentiers? Die Ameise sieht weder Ohröffnungen noch Fühler, nur frontale Ozellen.
Als sie dem Skorpion erneut ausweicht, begreift sie plötzlich, daß es die feinen Härchen an seinen Scheren sind, mit deren Hilfe er jede noch so schwache Luftbewegung in seiner Umgebung wahrnimmt.
Nr. 103 erinnert sich an einen Stierkampf im Fernsehen der Finger. Der Matador hatte immer einen roten Mantel geschwenkt.
Sie greift nach einem purpurnen Blütenblatt, das der Wind verweht hat, und schwenkt es mit den Mandibeln. In letzter Sekunde kann sie zur Seite springen, als der Giftstachel wieder wie eine Harpune vorschnellt. Es ist viel schwieriger, einem Stachel auszuweichen als zwei Hörnern, und die müde alte Ameise denkt, daß ein Finger einen Riesenskorpion bestimmt nicht so leicht besiegen könnte wie einen Stier.
Wenn Nr. 103 sich dem Gegner zu nähern versucht, wird sie von den geöffneten Scheren bedroht. Feuert sie einen Säurestrahl aus ihrem Hinterleib ab, schließen sich die Scheren blitzartig. Sie sind Angriffs-und Verteidigungswaffen in einem. Und die acht schnellen Beine bringen den Skorpion jederzeit in die beste Position, um parieren und zustoßen zu können.
Im Fernsehen sprang der Matador ständig umher, um den Stier zu reizen und zu ermüden. Nr. 103 tut es ihm nach und benutzt ihr Blütenblatt als Schild gegen den Stachel, doch der spitze Dorn durchbohrt mühelos das zarte Material.
Nicht sterben! Sie muß ihr Wissen über die Finger weitergeben. Nicht sterben!
Ihr Lebenswille läßt die Ameise ihr hohes Alter vergessen, und sie bewegt sich so schnell und geschickt wie in ihrer Jugend. Sie umkreist den Skorpion im Uhrzeigersinn. Gereizt über den anhaltenden Widerstand dieses schwachen Gegners, klappert der Skorpion immer lauter mit den Scheren und beschleunigt seine eigenen Bewegungen. Die Ameise bleibt plötzlich kurz stehen, macht kehrt und läuft in der Gegenrichtung weiter. Bei dem Versuch, ebenfalls schnell zu wenden, kommt der Skorpion aus dem Gleichgewicht und fällt auf den Rücken, wodurch seine empfindlicheren Körperteile bloßliegen. Die Ameise feuert einen gezielten Säurestrahl darauf ab, aber das scheint dem Skorpion nicht besonders weh zu tun. Schon steht er wieder auf seinen acht Beinen und greift an.
Der Stachel verfehlt den Kopf von Nr. 103 nur um Millimeter. Schnell, eine andere Idee!
Die alte Kriegerin erinnert sich daran, daß Skorpione gegen ihr eigenes Gift nicht immun sind. In Ameisenlegenden wird berichtet, wenn sie Angst hätten, speziell wenn sie von Feuer eingekreist seien, würden die Skorpione Selbstmord begehen, indem sie ihren Stachel gegen sich selbst richteten.
Aber hier ist weit und breit kein Feuer, das dem Skorpion angst machen könnte.
Die pessimistischen Sinnessignale der zuschauenden Wespen sind alles andere als ermutigend. Eine neue Idee muß her, schnell.
Die alte Ameise überdenkt die Situation. Worin besteht ihre Stärke? Worin besteht ihre Schwäche? Ihre Winzigkeit ist ihre Stärke, aber zugleich auch ihre Schwäche. Wie könnte sie die Schwäche in Stärke verwandeln?
Tausend Ideen schießen ihr durch den Kopf. Ihr Gedächtnis liefert alle möglichen Kampfstrategien, und ihre Fantasie wandelt diese ab, um sie der Konfrontation mit einem Skorpion anzupassen. Während sie den Gegner nicht aus den Augen läßt, versuchen ihre Antennen, im Astwerk irgendeine Lösung zu entdecken. Das ist der Vorteil eines doppelten Wahrnehmungsvermögens, des visuellen plus des olfaktorischen.
Plötzlich bemerkt sie ein Loch in der Rinde des Baums, und sogleich fällt ihr ein Zeichentrickfilm von Tex Avery ein. Sie rennt auf das Loch zu und dringt in den Holztunnel ein. Der Skorpion verfolgt sie, bleibt aber stecken, weil sein Bauch zu dick ist. Nur sein Schwanz ragt noch aus dem Loch hervor.
Nr. 103 verläßt den Tunnel durch einen anderen Ausgang und wird vom Beifall ihrer Anhängerinnen angefeuert.
Der Skorpion überlegt, wie er sich aus seiner mißlichen Lage befreien
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