Die Revolution der Ameisen
Metamorphosen werden diese verschlafene Welt aufrütteln.
Es bedarf keiner Gewalt, um erstarrte Werte zu verwerfen.
Die Überraschung wird groß sein, denn wir realisieren nur die
›Revolution der Ameisen‹.«
Alle überlegten.
»Revolution der Ameisen?« wunderte sich Zoé. »Das sagt doch gar nichts aus. Keiner wird davon Notiz nehmen.«
»Wenn man ein Lied daraus machen wollte, fehlt ein Refrain«, sagte Narcisse.
Julie schloß die Augen und schlug kurz darauf vor: Es gibt keine Visionäre mehr,
es gibt keine Erfinder mehr.
Nach und nach entstand der Text ihres ersten Liedes, wobei sie allerdings hauptsächlich aus dem reichen Schatz der Enzyklopädie schöpften.
Genauso nützlich erwies sie sich für die Musik. Ji-woong entdeckte einen Abschnitt, in dem Edmond Wells anhand von Bachschen Kompositionen erklärte, daß Melodien ähnlich aufgebaut seien wie Werke der Architektur. Der Asiat zeichnete eine Art Autobahn an die Tafel und entwarf eine musikalische Linie, sozusagen einen ›Mittelstreifen‹. Um diese Linie herum zeichneten die anderen daraufhin die ›Fahrbahnen‹ ihrer jeweiligen Instrumente ein.
Sie stimmten ihre Instrumente, um auszuprobieren, wie ihre erste Komposition sich anhörte. Notwendige Abänderungen wurden an der Tafel sofort durch neue Linien markiert. Julie trällerte die Melodie zunächst ohne Worte vor sich hin, sang dann aber die erste Strophe: »Ende, dies ist das Ende« und den Refrain: » Es gibt keine Visionäre mehr, es gibt keine Erfinder mehr.« Auch die zweite Strophe stammte aus der Enzyklopädie:
»Hast du nie von einer anderen Welt geträumt? Hast du nie von einem anderen Leben geträumt? Hast du nie davon geträumt, daß der Mensch eines Tages seinen Platz im Universum findet?
Hast du nie davon geträumt, daß der Mensch eines Tages mit der Natur, mit der ganzen Natur spricht und sie ihm als Partnerin und nicht mehr als besiegter Feind antwortet?
Hast du nie davon geträumt, mit den Tieren, den Wolken und Bergen zu sprechen, gemeinsam zu wirken, anstatt sich zu bekämpfen?
Hast du nie davon geträumt, daß Menschen sich zusammentun und eine Stadt gründen, wo die Beziehung des einen zum andern hilfreich ist?
Erfolg oder Mißerfolg würde keine Rolle mehr spielen.
Niemand dürfte sich anmaßen, einen Nachbar zu verurteilen.
Jeder wäre frei und würde sich dennoch für den Erfolg der anderen einsetzen.«
Julies Tonlage wechselte. Manchmal war ihre Stimme so dünn wie die eines kleinen Mädchens, manchmal tief und rauh.
Jeder der Sieben Zwerge fühlte sich bei ihrem Gesang an eine andere Interpretin erinnert: Paul fand, daß sie sich wie Kate Bush anhörte, Ji-woong dachte an Janis Joplin, Léopold an Pat Benatar und Zoé an die Sängerin Noa. Das lag einfach daran, daß jeder in Julie hineininterpretierte, was ihn – oder sie – an einer Frauenstimme am meisten faszinierte.
Sie unterbrach ihren Gesang, und David stimmte auf der elektrischen Harfe ein Solo an. Léopold griff zur Flöte und führte einen musikalischen Dialog mit ihm. Julie lächelte ihnen zufrieden zu und begann mit der dritten Strophe:
»Hast du nie von einer neuen Welt geträumt, die sich vor Fremdem nicht fürchtet?
Hast du nie von einer Welt geträumt, in der jeder in sich ruht?
Ich habe, um unsere Gewohnheiten zu ändern, von einer Revolution geträumt.
Von einer Revolution der Kleinen, einer Revolution der Ameisen.
Besser gesagt, nicht von einer Revolution, sondern von einer Evolution.
Ich habe geträumt, aber es ist nur eine Utopie.
Ich habe davon geträumt, ein Buch über diese Utopie zu schreiben, und ich habe davon geträumt, daß dieses Buch über Raum und Zeit hinweg leben würde, auch wenn ich schon längst tot bin. Wenn ich dieses Buch schreibe, wird es nur ein Märchen sein, ein Märchen, das nie Wirklichkeit werden kann.«
Sie bildeten einen Kreis und hatten das Gefühl, als wäre damit ein magischer Zirkel geschlossen, den es eigentlich schon längst hätte geben müssen.
Julie schloß die Lider. Sie war wie verzaubert, und ihr Körper wiegte sich im Rhythmus von Zoés Baß und Ji-woongs Schlagzeug. Obwohl sie sich nie etwas aus Tanzen gemacht hatte, verspürte sie nun ein unwiderstehliches Verlangen danach. Alle ermutigten sie, also zog sie ihren weiten Pulli aus; im engen schwarzen T-Shirt, mit dem Mikrofon in der Hand, wiegte sie sich anmutig im Rhythmus.
Zoé meinte, nun fehle nur noch ein guter Schluß.
Julie improvisierte, ohne die
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