Die Revolution der Ameisen
sagen, werden Sie völlig vereinsamen und sich selbst blockieren. Erwachsen ist man, wenn man gelernt hat, ein Gleichgewicht zwischen
›Ja‹ und ›Nein‹ zu finden: Man stimmt nicht allem zu, aber man lehnt auch nicht alles pauschal ab. Man will sich nicht mehr um jeden Preis in die Gesellschaft integrieren – oder sie verwerfen. Zwei Kriterien müssen für die Wahl zwischen ›Ja‹
und ›Nein‹ entscheidend sein. Erstens die Analyse der mittel-und langfristigen Konsequenzen, zweitens die Intuition. Nach bestem Wissen und Gewissen entweder ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen, ist eine hohe Kunst. Wer sie beherrscht, ist für Führungspositionen prädestiniert, aber nicht nur das! Viel wichtiger ist, daß er sich selbst unter Kontrolle hat.«
Die Mädchen in den ersten Reihen hingen an seinen Lippen, lauschten aber mehr dem Klang seiner Stimme als seinen Worten. Der Lehrer schob seine Hände in die Jeanstaschen und setzte sich auf Zoés Pult.
»Zusammenfassend möchte ich Ihnen ein altes Sprichwort ins Gedächtnis rufen: ›Es ist töricht, mit zwanzig kein Anarchist zu sein … aber noch törichter ist es, Anarchist zu sein, wenn man älter als dreißig ist.«
Er schrieb den Satz an die Tafel, und die Schüler notierten ihn oder sagten ihn leise vor sich hin, um ihn sich einzuprägen, für den Fall, daß sie beim mündlichen Abitur danach gefragt würden.
»Und wie alt sind Sie, Monsieur?« fragte Julie.
»Neunundzwanzig«, grinste der Lehrer. »Eine Zeitlang bin ich also noch Anarchist. Nutzen Sie das aus.«
»Und was bedeutet es, Anarchist zu sein?« wollte Francine wissen.
»Weder einen Gott noch einen Meister zu haben. Sich als freier Mensch zu fühlen. Ich fühle mich frei und möchte Ihnen beibringen, es ebenfalls zu sein.«
»Das sagt sich so leicht«, wandte Zoé ein, »aber hier in der Schule sind Sie unser Herr und Gebieter, und wir müssen Ihnen zuhören, ob wir nun wollen oder nicht.«
Bevor dem Lehrer eine kluge Antwort einfiel, flog die Tür weit auf, und der Direktor stürmte ins Zimmer.
»Bleiben Sie sitzen!« rief er. »Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen. Auf dem Schulgelände treibt sich ein Brandstifter herum. Vor einigen Tagen brannte ein Müllcontainer, und dann hat der Hausmeister in der Nähe der Hintertür, die bekanntlich aus Holz ist, einen Molotowcocktail gefunden! Unsere Schule ist zwar ein Betonbau, aber unter der Deckenverkleidung befindet sich Glaswolle, und vieles besteht aus Kunststoff, der nicht nur leicht entflammbar ist, sondern auch noch giftige Dämpfe verströmt. Deshalb habe ich sofort die bestmöglichen Brandschutzmaßnahmen treffen lassen. Wir verfügen jetzt über acht Hydranten mit Löschschläuchen, die innerhalb von Sekunden in jedem Winkel unseres Geländes eingesetzt werden können.«
Eine Sirene ertönte, aber der Direktor ließ sich davon nicht stören. »Außerdem habe ich die Hintertür mit Blech verkleiden lassen«, fuhr er fort, »so daß sie jetzt feuerfest ist. Die Sirene, die Sie gerade hören, bedeutet in Zukunft, daß es irgendwo brennt. Sollten Sie sie hören, verlassen Sie sofort Ihr Klassenzimmer, aber ohne zu drängeln, und begeben sich auf den Hof vor dem Haupteingang. Wir werden jetzt eine Übung abhalten.«
Die Sirene heulte ohrenbetäubend. Erfreut über die Abwechslung, eilten die Schüler ins Freie. Im Hof zeigten ihnen Feuerwehrleute, wie man die Hydranten öffnete und die Schläuche abrollte. Außerdem wurde ihnen erklärt, daß man feuchte Tücher über Türen werfen und sich bücken müsse, um unter den Rauchwolken Sauerstoff zu atmen. Inmitten des ganzen Durcheinanders sprach der Direktor plötzlich Ji-woong an:
»Sie bereiten sich doch auf das Konzert vor, hoffe ich?
Vergessen Sie nicht, es ist schon übermorgen.«
»Wir haben sehr wenig Zeit für die Proben.«
Der Direktor überlegte kurz und verkündete: »Gut, ausnahmsweise befreie ich Sie vom Unterricht. Sie müssen sich dieses Privilegs aber auch würdig erweisen.«
Endlich verstummte die Sirene. Julie und die Sieben Zwerge zogen sich in ihren Musikraum zurück und arbeiteten den ganzen Nachmittag. Bis zum Abend hatten sie drei fertige Lieder, und zwei weitere waren fast ausgearbeitet. Die Texte entnahmen sie größtenteils der Enzyklopädie , und dann komponierten sie die dazu passende Musik.
69. ENZYKLOPÄDIE
Kriegsinstinkt: Liebe deine Feinde. Das ist die beste Methode, ihnen auf die Nerven zu gehen.
EDMOND WELLS,
Enzyklopädie des relativen
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