Die Revolution der Ameisen
sie aus ihrem Gefängnis. Dieses Buch brauchte sie – und wie sehr sie es brauchte.
Ihre Mutter sah tatenlos zu, als sie das Werk an ihre Brust drückte, im Flur den langen schwarzen Regenmantel, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, vom Garderobenhaken riß und über ihr Nachthemd zog, das Buch in ihren Rucksack stopfte und hinausrannte. Achille folgte dem jungen Mädchen, sehr zufrieden, weil die Menschen endlich begriffen hatten, daß er am liebsten morgens und in flottem Tempo spazierenging.
»Wuff, wuff, wuff«, bellte er glücklich.
»Julie, komm sofort zurück!« rief die Mutter an der Haustür.
Ihre Tochter hielt ein freies Taxi an.
»Wohin soll’s denn gehen, junge Dame?«
Julie nannte die Adresse ihres Gymnasiums. Sie mußte so schnell wie möglich einen der Sieben Zwerge treffen.
72. UNTERWEGS
Geld: Das Geld ist eine einzigartige Erfindung der Finger.
Sie haben sich diesen raffinierten Mechanismus ausgedacht, um keine sperrigen Gegenstände tauschen zu müssen.
Anstatt eine große Menge Lebensmittel mit sich zu führen, nehmen sie einfach bemalte Papierstücke, die den gleichen Wert wie die Lebensmittel haben. Weil alle Welt damit einverstanden ist, kann dieses sogenannte ›Geld‹ gegen Nahrung eingetauscht werden.
Spricht man mit Fingern über Geld, so beteuern sie, daß sie es nicht lieben und zutiefst bedauern, in einer Gesellschaft leben zu müssen, wo nur das Geld zählt. Ihre historischen Dokumentarfilme beweisen jedoch, daß es vor der Erfindung des Geldes nur ein einziges Mittel gab, Reichtümer zu erwerben: Plünderung.
Das heißt, daß die gewalttätigsten Finger irgendwo auftauchten, die Männchen töteten, die Weibchen zur Paarung zwangen und alle Güter stahlen.
Draußen ist es kühl geworden, und Nr. 10 nutzt die Ruhepause aus, um Nr. 103 im Schutz einer Höhle zu befragen und das Gedächtnispheromon mit diesen wertvollen Informationen über Leben und Sitten der Finger zu bereichern. Die Prinzessin läßt sich nicht lange bitten und berichtet bereitwillig.
Auch die anderen Ameisen lauschen ihr aufmerksam. Nach dem Thema Geld kommt sie auf das Thema Fortpflanzung der Finger zu sprechen. Im Fernsehen hat sie immer besonders gern die ›pornografischen Filme‹ betrachtet.
Die zwölf Ameisen rücken noch näher heran, um jede Einzelheit besser riechen zu können.
»Was sind ›pornografische Filme‹?« fragt Nr. 16.
Nr. 103 erklärt, daß die Finger ihrer Paarung große Bedeutung beimessen. Sie filmen die besten Paare, damit die miserablen sich an ihnen ein Beispiel nehmen können.
»Und was sieht man in diesen pornografischen Filmen?«
Nr. 103 hat nicht alles verstanden, aber meistens verschluckt das Weibchen zunächst das Geschlechtsorgan des Männchens, und dann schieben sie sich übereinander, wie es auch die Bettwanzen tun.
»Sie vereinigen sich nicht im Flug, mit weit ausgebreiteten Flügeln?« fragt Nr. 9.
»Nein, die Finger pflanzen sich am Boden fort«, sagt Nr. 103.
»Sie wälzen sich wie die Schnecken, und oft sabbern sie auch wie die Schnecken.«
Die Ameisen sind an dieser primitiven Fortpflanzungsform sehr interessiert. Alle wissen, daß die Vorfahren der Ameisen vor über 120 Millionen Jahren sich mit einer Sexualität dieser Art zufriedengeben mußten. Sie blieben am Boden und schoben sich einfach übereinander. Die Ameisen sagen sich, daß die Finger auf diesem Gebiet noch sehr rückständig sind.
Die dreidimensionale Liebe beim Fliegen ist doch viel aufregender als die zweidimensionale, bei der man am Boden klebt.
Draußen wird es wärmer.
Jetzt darf man keine Zeit mehr mit Plaudereien vergeuden.
Die dreizehn Ameisen müssen sich beeilen, wenn sie ihre Stadt vor der schrecklichen Bedrohung des weißen Schilds retten wollen.
Prinzessin Nr. 103 marschiert voraus und ist wie berauscht vor Glück, weil sie jetzt eine geschlechtsfähige Ameise ist.
Sogar ihr Johnston-Organ, mit dem sie die irdischen Magnetfelder aufspüren kann, funktioniert jetzt noch besser als früher.
Das Leben ist schön. Die Welt ist schön.
Die Erdrinde ist von Adern magnetischer Energie durchzogen, die sie jetzt, als Prinzessin, fast sehen kann, so als wären es lange Wurzeln. Sie rät den anderen, immer auf einem solchen Schwingungskanal zu marschieren.
Indem man den unsichtbaren Adern der Erde folgt, respektiert man sie, und im Gegenzug beschützt sie uns.
Sie denkt an die Finger, die nichts von Magnetfeldern wissen. Sie bauen ihre Autobahnen aufs Geratewohl, sie
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