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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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und absoluten Wissens, Band III

70. AUFBRUCH VOM EICHENTURM
    Ihr müßt aufbrechen.
    Die Wespenkönigin verleiht ihrer Aufforderung Nachdruck, indem sie mit einem Fühler ungeduldig auf den Schädel der Ameise trommelt, während sie mit dem anderen unmißverständlich zum Horizont deutet. Auch Gastfreundschaft hat ihre Grenzen. In Bel-o-kan pflegten die alten Ammen zu sagen: Jedes Wesen muß eine Metamorphose durchmachen. Wer diese Chance verpaßt, lebt nur ein halbes Leben.
    Für Nr. 103 beginnt jetzt der zweite Teil ihres Lebens. Zwölf zusätzliche Jahre sind ihr geschenkt worden, und sie will diese Zeit voll nutzen. Sie ist jetzt ein Vollweibchen, eine Prinzessin, und wenn sie einem Männchen begegnet, kann sie Kinder haben.
    Die zwölf jungen Ameisen fragen die neue Prinzessin, welche Richtung sie einschlagen sollen. Auf der Erde wimmelt es immer noch von Heuschrecken, und Nr. 103 entscheidet, es sei am sichersten, sich auf Ästen nach Südwesten zu begeben.
    Die zwölf sind einverstanden. Sie klettern den mächtigen Eichenturm hinab und hangeln sich von Ast zu Ast. Manchmal müssen sie große Sprünge machen oder sich wie Trapezkünstler durch die Luft schwingen, um ein fernes Blatt zu erreichen.
    Es dauert lange, bis der bittere Geruch der Heuschrecken ein wenig nachläßt. Vorsichtig steigt die Gruppe – Nr. 103 allen voran – am Stamm einer Sykomore hinab und betritt festen Boden. Der Heuschreckenteppich ist höchstens zwanzig Meter von ihnen entfernt.
    Nr. 5 signalisiert ihren Gefährtinnen, daß man sich möglichst unauffällig in Gegenrichtung entfernen sollte, aber diese Vorsichtsmaßnahme erweist sich als überflüssig, denn plötzlich erhebt sich der ganze mörderische Schwarm in die Lüfte.
    Es ist ein eindrucksvoller Anblick. Die Beinmuskeln der Heuschrecken sind tausendmal so kräftig wie die von Ameisen, deshalb können sie mit einem einzigen Sprung eine Höhe erreichen, die der zwanzigfachen Körperlänge entspricht. Dort oben breiten sie dann ihre vier Flügel aus und bewegen sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit, um sich noch höher in die Lüfte zu schwingen. Natürlich erzeugt ein solcher Massenaufbruch einen ohrenbetäubenden Lärm, und Kollisionen sind unvermeidlich. So manche Heuschrecke wird von ihren Artgenossen verstümmelt oder zerquetscht.
    Der Schwarm hinterläßt eine völlig kahlgefressene Region.
    Es gibt keine Gräser, keine Blumen und keine Beeren mehr, und sogar die meisten Bäume haben ihre Blätter verloren.
    Prinzessin Nr. 103, die ihnen nachblickt, kann beim besten Willen nicht verstehen, welches Interesse die Natur daran hat, Heuschrecken hervorzubringen. Vielleicht sind sie mit der Wüste verbündet, um jedes Tier-und Pflanzenleben zu vernichten und nur mineralische Substanzen übrig zu lassen?
    Nr. 103 kehrt der verwüsteten Landschaft den Rücken zu, weil es ein so desolater Anblick ist. Sie muß jetzt über die drei großen Besonderheiten der Finger nachdenken: Humor, Liebe und Kunst. Nr. 10, die diese Gedanken riecht, nähert sich und schlägt ihr vor, ein Gedächtnispheromon zu produzieren, in dem sie alles sammeln wird, was die Prinzessin ihr anvertraut, nachdem deren Gedächtnis und analytisches Denken jetzt ja besonders geschärft sind. Sie hebt ein Insektenei auf, in dem die duftende Flüssigkeit aufbewahrt werden soll.
    Nr. 103 stimmt zu. Sie hatte selbst schon daran gedacht, ihre Erinnerungen auf diese Weise festzuhalten, aber bei ihren unzähligen Abenteuern hatte sie das mit Informationen gefüllte Ei irgendwo verloren. Jetzt freut sie sich, daß Nr. 10 diese wichtige Aufgabe übernehmen will.
    Die dreizehn Ameisen schlagen den Weg nach Südwesten ein, in Richtung ihrer Geburtsstadt Bel-o-kan.
     

71. TABULA RASA MIT DER VERGANGENHEIT
     
    Freitag morgen, einen Tag vor dem großen Auftritt. Julie träumte noch. Sie stand vor dem Mikrofon und brachte keinen Ton heraus. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, daß sie keinen Mund mehr hatte, nur noch ein großes glattes Kinn. Sie konnte weder sprechen noch schreien noch singen. Um sich verständlich zu machen war es ihr nur noch möglich, die Brauen zu heben oder mit den Augen zu rollen. Das Mikrofon lachte höhnisch. Sie weinte über ihren verlorenen Mund. Auf dem Schminktisch lag ein Rasiermesser, und sie wollte sich einen neuen Mund schneiden, hatte aber Angst vor der Verstümmelung. Um sich die Operation zu erleichtern, malte sie zunächst mit Lippenstift die Umrisse eines Mundes auf ihre Haut. Dann

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