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Die Revolution der Ameisen

Die Revolution der Ameisen

Titel: Die Revolution der Ameisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Werber
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führte sie die Klinge zur Mitte ihrer Zeichnung …
    Julies Mutter riß die Zimmertür laut auf. »Es ist neun Uhr, Julie. Ich weiß, daß du nicht mehr schläfst. Steh auf, wir müssen uns unterhalten.«
    Julie rieb sich die Augen und tastete unwillkürlich nach ihrem Mund. Sie spürte die beiden feuchten Lippen. Uff! Auch ihre Zunge und ihre Zähne waren noch vorhanden.
    Ihre Mutter stand auf der Schwelle und fixierte sie eisig.
    »Los, steh auf!«
    »O nein, Mama, noch nicht, nicht so früh!«
    »Ich muß mit dir reden. Seit dem Tod deines Vaters lebst du so weiter, als wäre überhaupt nichts geschehen. Bist du denn völlig herzlos? Er war doch dein Vater!«
    Julie versteckte ihren Kopf unter dem Kissen, um nichts mehr zu hören.
    »Du amüsierst dich, du treibst dich mit einer Schülerbande herum. Letzte Nacht hast du nicht einmal zu Hause geschlafen.
    Über all das müssen wir sprechen.«
    Julie lugte unter dem Kissen hervor. Ihre Mutter hatte weiter abgenommen.
    Gastons Tod schien seiner Witwe neuen Aufschwung verliehen zu haben. Sie probierte nicht nur erfolgreich eine neue Diät aus, sondern machte auch eine Psychoanalyse, weil sie nicht nur ihren Körper verjüngen, sondern auch ihren Geist entschlacken wollte.
    Julie wußte, daß ihre Mutter einen Rebirth- Psychoanalytiker konsultierte. Diese Spezialisten, die derzeit sehr ›in‹ waren, durchforsteten nicht nur die ganze Kindheit ihrer Patienten nach vergessenen Traumata, sondern versetzten sie sogar in den noch ferneren fötalen Zustand zurück. Julie fragte sich, ob ihre Mutter, die ihre Kleidung stets sorgfältig auf ihr spirituelles Alter abstimmte, demnächst einen Strampelanzug mit Windelhöschen tragen oder sich sogar mit einer Nabelschnur aus Plastik schmücken würde.
    Immerhin war es noch ein Glück, daß sie nicht bei einem Analytiker gelandet war, der sich auf ›Reinkarnation‹
    spezialisiert hatte! Andernfalls würde sie sich bestimmt in die Gewänder jener Person hüllen, die sie in ihrem früheren Leben gewesen war.
    »Julie, los, sei nicht kindisch! Steh auf!«
    Julie rollte sich unter der Bettdecke zu einer Kugel zusammen und steckte ihre Finger in die Ohren. Nichts sehen, nichts hören, nichts spüren.
    Ihre Mutter hob jedoch die Decke hoch und beugte sich über sie. »Julie, ich meine es ernst. Wir müssen uns aussprechen.«
    »Laß mich schlafen, Mama!«
    Der Blick der Mutter fiel auf ein Buch auf dem Nachttisch.
    Enzyklopädie des relativen und absoluten Wissens von Professor Edmond Wells, Band III.
    Julies Psychotherapeut hatte dieses Werk erwähnt, und weil ihre Tochter immer noch unter der Decke verkrochen war, nahm sie es geräuschlos an sich. »Also gut, du kannst noch eine Stunde schlafen, aber dann werden wir uns unterhalten.«
    Sie trug das Buch in die Küche und blätterte darin. Die Rede war von Revolutionen, von Ameisen, von der Infragestellung der bestehenden Gesellschaftsordnung, von Kampfstrategien und Techniken der Massenmanipulation. Es gab sogar Anleitungen zur Herstellung von Molotowcocktails.
    Der Psychotherapeut hatte recht. Nur gut, daß er sie angerufen hatte, um sie vor diesem Edmond Wells zu warnen, dessen Buch einen verderblichen Einfluß auf ihre Tochter ausüben könne. Es war ein subversives Werk, dessen war sie sich ganz sicher, und deshalb versteckte sie es auf dem obersten Regal des Wandschranks.
     
    »Wo ist mein Buch?«
    Julies Mutter beglückwünschte sich, endlich den Schlüssel des Problems gefunden zu haben. Wenn man einen Drogensüchtigen seines Rauschgifts beraubte, litt er unter Entzugserscheinungen. Ihre Tochter war immer noch auf der Suche nach einer Leitfigur, nach einem Vater. Früher hatte es jenen komischen Gesangslehrer gegeben, und jetzt war es diese mysteriöse Enzyklopädie. Sie nahm sich fest vor, das Werk Seite für Seite zu vernichten, bis Julie endlich einsehen würde, daß es für sie nur eine einzige Zuflucht gab: ihre Mutter.
    »Ich habe es zu deinem Besten versteckt. Eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein.«
    »Gib mir mein Buch zurück!« knurrte Julie.
    »Es ist sinnlos, mich umstimmen zu wollen.«
    Julie ging auf den Wandschrank zu, in dem ihre Mutter immer alles versteckte. Langsam und überdeutlich sagte sie wieder: »Gib es mir sofort zurück!«
    »Bücher können gefährlich sein! Das Kapital hat zu siebzig Jahren Kommunismus geführt.«
    »Ja, und das Neue Testament hat fünfhundert Jahre Inquisition bewirkt.«
    Julie entdeckte die Enzyklopädie und befreite

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