Die Revolution der Ameisen
auf dem Wasser schwimmt.
Neugierig wie immer, probiert Nr. 103, wie der Wurzelsaft schmeckt. Erstaunt stellt sie fest, daß er wie ein Beruhigungsmittel wirkt. Alles kommt ihr plötzlich noch friedlicher und heiterer vor. Ameisen können nicht lächeln, aber sie fühlt sich sehr wohl.
Ein Fluß ist etwas Schönes! Rote Morgensonne wärmt die Belokanerinnen. Auf den Wasserpflanzen glitzern Tautropfen.
Trauerweiden lassen ihre langen, weichen Blätter hängen.
Die Narzissen haben ein fröhlicheres Naturell: Sie stehen aufrecht da, gelbe Sterne, die einen köstlichen Duft verströmen.
Das oberste Seerosenblatt streift eine Schierlingsblüte, die nach Sellerie duftet und einen gelblichen Saft absondert, der an der Luft dunkler wird. Die Ameisen wissen, daß dieser Saft süß ist, aber einen Giftstoff enthält, der das Gehirn lähmt. Viele Kundschafterinnen sind gestorben, bevor diese Information im kollektiven Gedächtnis ihrer Artgenossen fest verankert war: Den Schierling nicht anrühren!
Über ihnen kreisen Libellen. Die jungen Ameisen bewundern diese schönen, großen Insekten, die mitten im Hochzeitstanz sind. Jedes Männchen verteidigt sein Territorium gegen die anderen und versucht es durch Kämpfe zu vergrößern.
Das Weibchen fühlt sich offenbar zu jenem Männchen hingezogen, das ihr am meisten Platz für den Paarungstanz und das anschließende Eierlegen zu bieten hat.
Nr. 103 sitzt gemütlich im gelben Herzen der Seerose und denkt über die bedeutende Geschichte der Ameisen nach. Sie kennt alle alten Mythen, die von Generation zu Generation überliefert werden. Sie weiß, wie die Ameisen die Dinosaurier vom Erdboden tilgten: indem sie in ihre Gedärme eindrangen und sie von innen zerfraßen. Sie weiß auch, daß Ameisen und Termiten über Jahrmillionen hinweg um die Herrschaft über die Erde gekämpft haben.
Die Finger haben von der Geschichte der Ameisen keine Ahnung. Sie wissen nicht, daß Ameisen die Samen von Blumen und Gemüsesorten aus dem Land der aufgehenden Sonne in ferne Regionen brachten, wo man bis dahin weder Erbsen noch Zwiebeln noch Karotten gekannt hatte.
Beim Anblick des majestätischen Flusses, auf dem sie unterwegs ist, verspürt die Prinzessin großen Stolz auf ihre Gattung. Die Finger werden einen solchen Anblick nie genießen können. Sie sind viel zu groß, viel zu plump, um Trauerweiden und Narzissen so sehen zu können, wie eine Ameise sie sieht. Sie nehmen auch nicht die gleichen Farben wie eine Ameise wahr.
Die Finger können sehr weit sehen, aber ihr Gesichtsfeld ist viel zu eng, denkt Nr. 103.
Während Ameisen ein Blickfeld von 180 Grad haben, müssen die Finger sich mit 90 Grad begnügen, und wenn sie etwas wirklich scharf ins Auge fassen, schrumpft dieser Winkel sogar auf 15 Grad zusammen. Sie hat es in einem Dokumentarfilm gehört: Die Finger haben entdeckt, daß die Welt rund ist. Sie besitzen Karten, auf denen alle Wälder und Wiesen eingezeichnet sind. Deshalb können sie nicht mehr sagen: »Ich mache mich auf den Weg ins Unbekannte« oder »Ich breche in ein fernes Land auf«. Mit ihren fliegenden Maschinen ist es ihnen nur zu leicht möglich, jedes Land der Erde in einem einzigen Tag zu erreichen.
Prinzessin Nr. 103 hofft, den Fingern eines Tages die Technologien von Bel-o-kan zeigen zu können: Wie man den Honigtau von Blattläusen zubereitet, wie man sich Tieren verständlich macht und tausenderlei andere Dinge von denen die Finger nichts wissen.
Während die Sonne ihre Farbe von Rot in Orange wechselt, erklingen überall Lieder. Nicht nur die Grillen singen, sondern auch Kröten, Frösche, Vögel …
Es ist Zeit zum Mittagessen.
Bei den Fingern hat Nr. 103 sich angewöhnt, dreimal am Tag zu festen Zeiten zu essen. Die Ameisen beugen sich vor und sammeln Mückenlarven, die an der Wasseroberfläche hängen, mit den Köpfen nach unten und den Atmungsröhren nach oben.
Alle haben Hunger.
84. IN DER CAFETERIA
Hähnchen oder Fisch?
Tagesmenu der Cafeteria des Gymnasiums an diesem Montag: Vorspeise – rote Rüben in Essig; Hauptgericht –
paniertes Fischfilet oder Brathähnchen; Dessert – Apfelkuchen.
Mit ihrem längsten Fingernagel befreite Zoé eine Mücke, die an der Konfitüre des Apfelkuchens klebte.
»Siehst du, manchmal können Fingernägel ganz nützlich sein«, sagte sie zu Julie.
Es war eher unwahrscheinlich, daß die Mücke sich erholen würde, aber Zoé wollte sie auf keinen Fall essen und setzte sie deshalb behutsam am Tellerrand
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