Die Revolution der Ameisen
ab.
Die Schüler standen mit ihren Tabletts Schlange, und eine Bedienung mit riesiger Kelle in der Hand stellte jedem die metaphysische Frage: »Hähnchen ODER Fisch?«
Schließlich war es diese Wahlmöglichkeit, die eine moderne Cafeteria von einer normalen Kantine unterschied.
Julie machte sich mit ihrem Tablett, das wegen einer hohen Wasserkaraffe ständig ins Schwanken geriet, auf die Suche nach einem großen Tisch, an dem die ganze Gruppe Platz hätte.
»Nein, hier nicht, dieser Tisch ist für Lehrer reserviert«, bekam sie zu hören.
Ein anderer großer Tisch war für das Dienstpersonal vorgesehen, ein dritter für die Verwaltungsangestellten. Jede Kaste verteidigte eifersüchtig ihr Territorium und ihre kleinen Privilegien, und es war unmöglich, dagegen anzukämpfen.
Endlich wurden Plätze frei. Weil sie nur zwanzig Minuten für das Mittagessen hatten, schlangen sie es hinunter, ohne sich Zeit zum Kauen zu nehmen. Ihre Mägen, die sich schon daran gewöhnt hatten, machten die Trägheit der Backenzähne wett, indem sie schärfere Säure produzierten.
Ein Schüler näherte sich dem Tisch der Gruppe. »Meine Freunde und ich haben das Konzert am Samstag abend verpaßt.
Es soll super gewesen sein, und ich habe gehört, daß ihr nächste Woche wieder auftreten wollt. Könnten wir Freikarten bekommen?«
»Ja, wir hätten auch gern welche!« rief ein anderer.
»Wir auch …«
Bald war der Tisch von mindestens zwanzig Schülern umringt, die Freikarten begehrten.
»Wir dürfen uns nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen«, mahnte Ji-woong. »Gleich nach der Geschichtsstunde ist Probe, einverstanden? Für das große Konzert am nächsten Samstag brauchen wir neue Lieder und neue Bühneneffekte. Narcisse, du kümmerst dich um die Kostüme, und du, Paul, um die Dekoration. Julie, du mußt dich zum ›Sexsymbol‹ wandeln.
Dazu bist du prädestiniert, aber du bist noch nicht locker genug.«
»Du erwartest doch hoffentlich nicht, daß ich Striptease mache?«
»Nein, aber hin und wieder könntest du eine Schulter entblößen. Das machen sogar die berühmtesten Sängerinnen, und es ist sehr wirkungsvoll.«
Julie schnitt eine Grimasse.
Der Schuldirektor kam an ihren Tisch und gratulierte ihnen zu dem großen Erfolg. Er sagte, daß sein Bruder, der Direktor des Kulturzentrums, am nächsten Samstag große Erwartungen in sie setze, und dann vertraute er ihnen an, er selbst habe in seiner Jugend eine ähnliche Chance gehabt und sie nicht genutzt, was er bis heute bedaure. Er händigte ihnen sogar einen Schlüssel für die nunmehr gepanzerte Hintertür aus, damit sie ihre Proben abhalten konnten, wann immer sie wollten.
Sobald er sich entfernt hatte, sagte Julie, auch an den Bühneneffekten gäbe es noch viel zu verbessern. Die auf den Vorhang projizierten Regenbogenfarben seien nicht wirkungsvoll genug.
»Wie wär’s mit einem großen Buch im Hintergrund, auf das man nicht nur Farben, sondern auch Dias von Fotomontagen aus der Enzyklopädie projizieren könnte?« schlug Paul vor.
»Ja, und man könnte auch eine große Ameise bauen, die ihre Beine im Rhythmus der Lieder bewegt.«
»Vielleicht sollten wir unser Konzert ›Die Revolution der Ameisen‹ nennen. Schließlich hat dieses Stück uns beim ersten Auftritt gerettet.«
Alle hatten zündende Ideen. Sie wollten zwischen den Rocknummern sogar ein klassisches Stück, beispielsweise eine Bachsche Fuge, interpretieren.
85. ENZYKLOPÄDIE
Die Kunst der Fuge: Die Fuge bedeutet gegenüber dem Kanon eine Weiterentwicklung. Der Kanon ›quält‹ ein einziges Thema in allen nur möglichen Abarten, um zu sehen, wie es jeweils reagiert. Hingegen kann die Fuge mehrere Themen beinhalten. Sie ist keine reine Wiederholung, sondern bildet eine Stufenfolge.
Bachs ›Musikalisches Opfer‹ gehört zu den architektonisch schönsten Fugen. Es beginnt in C-moll, endet aber mit Hilfe großartiger Taschenspielertricks in D-moll, und nicht einmal der aufmerksamste Zuhörer wird wahrgenommen haben, in welchem Moment diese Metamorphose vor sich gegangen ist.
Durch dieses System von ›Sprüngen‹ aus einer Tonart in die andere könnte man das ›Musikalische Opfer‹ beliebig weiter abwandeln.
Das Meisterwerk aller Fugen ist jedoch zweifellos ›Die Kunst der Fuge‹, die Bach kurz vor seinem Tod komponierte.
Er wollte den ›gewöhnlichen Sterblichen‹ anhand dieser Komposition, die aus 15 Fugen und Kanons bestand, seine Technik musikalischer Progression erklären, die mit
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